74 - Hochmut

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Mays Tür flog mit einem befriedigenden Knallen aus den Angeln. Die beiden Soldaten im Gang hatten kaum noch Zeit, sich umzudrehen, bevor Caz Kristalle aus ihren Kehlen ragten und sie in sich zusammenbrachen wie Marionetten. Die Hohe stieg über ihre Körper hinweg, lenkte mit einer Handbewegung die Kristalle auf die anderen beiden Männer zu, die weiter den Gang hinunter postiert waren. Sie versuchten zu rennen, doch May jagte ihre Geschütze gnadenlos durch ihre Körper. Wut brannte in den sternhellen  Augen der jungen Frau, bodenlos und genährt von einem Schmerz, der sie seit Monaten quälte. Ihre hellen Lederstiefel waren blutbespritzt, als sie das Ende des Gangs erreichte, ihr beiger Mantel bäumte sich auf, als sie in die Finsternis hinaustrat. In der Ferne erhob sich die Festung, in der Julian und Cress nach wie vor einquartiert waren.

Geduld, ermahnte sie sich, Geduld.

Die Hohe verließ das Anwesen und folgte dem Pfad, der hinunter zu dem Wald führte, in den man sie an ihrem ersten Tag hier gebracht hatte. Sie war im Haus der Richterin verborgen worden, direkt vor der Nase der Menschen, die sie nicht finden sollten. Als sich das Glasdach über ihren Kopf spannte und um May her das Licht der riesigen Glühbirnen über die alten Bäume huschte, erinnerte sie sich an diesen ersten schicksalhaften Tag unter der Erde. Sie war panisch gewesen, voller Angst, wehrlos, und davon überzeugt, dass die Farblosen sie sofort umbringen würden. Das hätten sie auch tun sollen. Denn May hatte inzwischen mehr als einen Namen auf ihrer Liste. Zwar lechzte sie mehr nach Julians Blut, als nach dem der anderen, doch sie konnte nicht direkt in die Festung marschieren. Noch nicht.

Helena von Avescus war nicht schwer zu finden. Sie war verständlicherweise nicht in Feierlaune, sondern saß mit ihren Anwälten vor der Statue der Justitia, an dem Ort, wo May das erste Mal die untere Stadt erblickt hatte. Wo ihre Welt das erste Mal zerbrochen war. Die goldene Frau trug schwere Eisenhandschellen, wie man sie der Hohen angelegt hatte, als sie damals auf diesen Patz geführt worden war.

Die Wachen fielen ohne ein Geräusch zu machen, als die beiden Klingen aus Caz Kristall lautlos auf sie zu schossen. Eine von ihnen schlug danach, wie nach einem lästigen Tier und öffnete gerade den Mund, um zu schreien, als Blut ihre Brust hinab sickerte. May hatte es nicht eilig, als sie zwischen den beiden um ihr Leben kämpfenden Farblosen hindurch ging und letztendlich hinaus auf den Platz trat.

Sie war wie in Trance, dachte nicht eine Sekunde darüber nach, dass sie gerade Menschen ermordete. Jede andere Version von ihr wäre zutiefst geschockt, wenn sie sie jetzt sehen könnte. Doch May war alles egal geworden. Helena und Julian hatten Menschen ermordet, die sie liebte - und jetzt würden sie dafür bezahlen. Es war eine einfache, alte und unbestechliche Logik. Blut verlangte nach Blut und es war ihre Pflicht, als Ordensdame, als Hohe, als Schwester, diese Schuld zu begleichen.
Es sind ohnehin nur Farblose.

Die beiden Advokaten sahen auf, wohl um sich über die Störung zu beschweren. Sie sanken in sich zusammen, als Mays Kristalle ihre Kehlen aufrissen.
Farblos, vogelfrei, demokratisch, gefährlich.

Helena von Avescus fuhr zusammen, als ihre Berater auf den Tisch knallten und begannen die sorgsam geschriebenen Dokumente darauf vollzubluten. Cheleste hatte kein Gerichtsurteil und keine Advokaten bekommen. Wieso sollte es dieser grausamen Frau besser ergehen?

Die goldene Frau drehte sich in ihren Ketten zu May um. Obwohl sie es sich nicht anmerken lassen wollte, war ihr Schock offensichtlich. Doch die Hohe hatte nicht vor, sie sofort umzubringen. Mit versteinertem Gesicht kam sie über das Gras auf Achills Mutter zu, die inzwischen aufgesprungen war und nach einem Brieföffner gegriffen hatte. Obwohl ihre Füße nicht gebunden waren, versuchte sie nicht, zu laufen. Die Berglöwin stand unter der Wage der Justitia und stellte sich dem ungezügelten Zorn der Hohen. Diese war nicht so dumm zu nahe vor ihrer Gegnerin zum Stehen zu kommen. Links und rechts von ihrem Kopf schwebten die blutbesudelten Caz Kristall Klingen in der Luft, die sie aus Dominiques Spiegel geformt hatte.

Smokehands (Skythief pt. 2)Where stories live. Discover now