73 - Einsamkeit

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May kniete vor einer der kalkweißen Wände in ihrem Zimmer und betete. Sie trug nur ihr Nachthemd, hatte die Hände gefaltet und die Augen geschlossen. Das flackernde Licht einer Öllampe tanzte über ihr silbernes Haar, über ihre schlanken Schultern und ihre weißen Zähne, die immer wieder zwischen ihren Lippen auftauchten, während sie leise Worte formte.

Es hätte sie nicht überrascht, wenn genau zur selben Zeit auch die verbliebenen Knochenschwestern in ihren Zellen knieten und sich an ihre Götter wandten. Denn was sie auf dem Platz gesehen hatten, hatte Mays Welt mehr erschüttert, als all die Dinge, die ihr in den letzten Monaten widerfahren waren. Julians Gabe hatte ihr Weltbild erbeben lassen, es zerrüttet und sie dann hier alleine gelassen.

Sie hatte lange nicht alles verstanden von dem, was er ihr erklärt hatte, und das machte sie wahnsinnig. Normalerweise war sie die erste, die komplexe Zusammenhänge durchschaute, die erste, die eine Lösung zu den scheinbar unumgänglichen Problemen fand, mit denen sie konfrontiert wurden. Doch das Feuer auf dem Platz hatte nichts mit Logik zu tun. Sie verstand es nicht, obwohl sie in ihrem Kopf immer und immer wieder an den Tatsachen drehte und versuchte, sie in ein größeres, verständliches System einzubetten.

May hatte nie darüber nachgedacht, dass alles, was sie erlebte, sie vielleicht verrückt machen würde. Nun fühlte sie sich so einsam, isoliert und verwirrt, dass sie es als beinahe unausweichlich ansah, dass sie irgendwann in den nächsten Wochen gänzlich den Verstand verlieren würde.
Sie sehnte sich nach der Taubheit, die sie in Begriff genommen hatte, als sie alleine in diesem Raum gesessen hatte. Sie sehnte sich nach den stundenlangen Meditationen, die sie sich selbst aufgezwungen hatte, um ihre Angst zu besänftigen. Doch mehr als alles sehnte sie sich nach der Zeit zurück, in der sie noch dem Irrglauben anheimgefallen war, dass sie die Welt verstanden hatte.

Es war beinahe schon wieder einer dieser sonnenlosen Morgen, als sie sich erhob. Ihre Knie schmerzten, ihr Rücken knackte und ihre Muskeln waren schmerzhaft verspannt von der Haltung. May hob die Lampe auf, ging barfuß hinüber zu ihrem Schrank und öffnete so vorsichtig die Tür, als rechne sie damit, von etwas im Inneren angefallen zu werden. Doch da waren nur die Kleider, die man ihr gegeben hatte. Nacheinander nahm sie die gefalteten Kleidungsstücke zur Hand und stapelte sie in ein anderes Fach um. Das gab ihr die Zeit, noch einmal darüber nachzudenken, was sie gerade tat.

Dominique konnte ihr nichts antun – sie kommunizierten schließlich durch einen Caz Kristall, den May gestern mühelos manipuliert hatte. Sie war sich sicher, dass die Königin den Stein auf diese Entfernung nicht formen und als Waffe verwenden konnte. Wenn sie in den Türmen war, würde das im Umkehrschluss nämlich bedeuten, dass May Zugriff auf den Kristall dort haben müsste. Denn wenn ihr Kampf mit Julians Schwester eines gezeigt hatte, dann, dass sie sich in ihrer Gabe ebenbürtig waren. Folglich konnte kein Schaden entstehen, wenn sie nur mit Dominique sprach.

Stundenlang hatte sie darüber nachgedacht, während Gebete über ihre Lippen flossen und war zu dem Schluss gekommen, dass sie es wagen musste. Julian hatte ihr auf jede ihrer Fragen geantwortet, doch er hatte sich nie besonders um Religion und Tradition geschert. Er konnte vielleicht erahnen, wie May sich fühlte, aber er war nicht wie sie. Niemand in dieser Stadt dachte und glaubte wie sie.
Jedes Mal, wenn ihre Gedanken in dieser Richtung wanderten, fühlte sie die Einsamkeit wie ein tonnenschweres Gewicht auf ihrer Brust lasten, auch wenn sie immer und immer wieder glaubte, sich endlich an sie gewöhnt zu haben.

Wenn sie nicht wirklich dem Wahnsinn verfallen wollte, dann musste sie mit jemandem sprechen, der zum Orden gehörte. Sie hatte überlegt, ob sie sich zu Coria und Alcha schleichen könnte. Doch sie kannte die Stadt nur schlecht, weil sie die allermeiste Zeit in dieser Villa verbracht hatte, stand immer noch unter Beobachtung und war nicht so naiv zu glauben, dass die Valeria zwei ihrer höchstpriorisierten Gefangenen so einsperren würden, dass ausgerechnet May sie befreien konnte. Also musste sie einen Kompromiss eingehen.

Smokehands (Skythief pt. 2)Where stories live. Discover now