29 - Goldzunge

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Cress hatte ihn nicht aus den Augen gelassen, während sie Julian zusammenflickten, ihn an Maschinen anschlossen und viele feine Nähte durch seine Haut zogen.
Man hatte mehrmals versucht, sie wegzuschicken. Doch lieber würde sie sich von Hippolita in den Boden rammen lassen, als diesen Unterweltlern Julians Leben anzuvertrauen.
Und so lehnte sie in der Ecke des Raums, bemühte sich wegzusehen und sah doch das Blut, die Nadeln und die hektischen Hände der Mediziner. Als sie sich so eng drängten, dass sie sein Gesicht nicht mehr sehen konnte, starrte sie nur noch den grünen Herzschlag auf dem Monitor an.
Sie hätte seine Hand halten können. Hätte ihm durchs Haar fahren und aufmunternde Worte zuflüstern können, die er gar nicht hören konnte.
Doch jetzt, wo das Feuer gelöscht war und seine grausamen Folgen zum Vorschein kamen, spielten Zweifel mit ihren Gedanken, wie die schönen Mädchen der Zuckerfrau mit ihren Gästen.

Die Angst war nicht unvermittelt gekommen, sie war in den Stunden gewachsen, seit man sie in hierher, irgendwo in eine kleine Felsenhöhle mit verschließbarer Eisentür, gebracht hatte. Langsam und kriechend wie die Wurzeln eines giftigen Pilzes hatten sie sich durch ihren Kopf gewunden.
Jetzt starrte sie Julians Herzschlag an und zitterte unkontrolliert. Es wurde so schlimm, dass Cress sich zu Boden gleiten ließ und die Arme um die Knie schlang. Völlig überfordert war sie nicht einmal mehr fähig, ganze Gedanken zu formen. Es war, als wären all die Geschichten von Monstern, Teufeln und Göttern plötzlich real geworden.
Das Feuer war aus Julian herausgebrochen.
Er war in Flammen explodiert, wie eine Kiste Dynamit. Von einem Moment auf den anderen waren die Flammen überall gewesen, himmelhoch und taghell. Sie konnte es nicht erklären. Ihr plötzlich so mickriger, menschlicher Verstand konnte sich nicht erklären, wie so etwas möglich war.
Und die alles entscheidende Frage blieb, während sie den Kopf an die Wand presste und die tanzende grüne Linie beobachtete, die bewies, dass er noch lebte.
War Julian ein Gott oder ein Teufel?

Und wieso war sie mitten in die Flammen gesprungen, um ihn zu finden, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wie lebensmüde das war? So etwas tat sie nicht.
So war sie nie gewesen.
Impulsiv, gewagt, ja, aber nicht so offenkundig verrückt. Nicht so lebensmüde.
Nicht so gefangen von der Sehnsucht nach jemandem, dass sie die meterhohen Flammensäulen ignorierte, in die sie hinein sprang. Wie hatte sie sich so gehen lassen können? Wieso konnte er so etwas mit ihr machen?
Sterne, wenn nicht sämtliche Naturgesetze sie in letzter Zeit unberührt gelassen hätten, wäre sie jetzt nur noch ein Häufchen Asche, das der Wind zerstreuen würde.
Cress presste sich die Finger an die Lippen. Sie hatte gar nicht realisiert, dass sie begonnen hatte, an ihren Nägeln zu kauen.
Sie lebte nicht in einem Märchen. Die Realität hatte gerade einen Kopfsprung in die Unmöglichkeit gemacht. Es war fraglich, ob sie wiederauftauchen würde.

Als die fremden Ärzte gingen, fremde Pfleger die letzten Verbände anlegten und fremde Hände die Tür schlossen, war sie plötzlich alleine mit ihm. Zögerlich näherte sie sich dem Bett, sah auf den jungen Mann hinunter, der den fremden Himmel in Brand gesteckt hatte.
Er sah anders aus, als der strahlende zukünftige König, den die Screens an die Stadt verkauften. Immer noch mit der gleichen, symmetrischen Knochenstruktur. Schön wie ein Grabmal aus Marmor.
Sie musste die Hand ausstrecken, um sich zu vergewissern, dass seine Wange warm war und nicht kalt wie Stein. Andererseits ... wie könnte jemand, in dem Flammen brannten, kalt sein? Sie bildete sich ein, ihr Flackern zu spüren. Kaum verborgen unter seiner Haut.

Ihre Finger strichen über seinen Hals, den Arm hinunter, wichen den Kanülen aus. Und schlossen sich dann um seine Hand. Zögerlich. Wie um zu testen, ob sie sich noch genauso anfühlte, wie in der Nacht, als sie durch die Bibliothek gejagt waren. Bevor es geschehen war.
Bevor Julian völlig wirr in die Suite gestolpert war. Bevor er ihre Sicherheit über alles andere gestellt hatte und dafür zum Mörder geworden war. Ein kleiner Teil von ihr war entsetzt, als ein großer Teil von ihr feststellte, dass sie lieber als Farblose im Kernbezirk entdeckt worden wäre, als das zuzulassen. Dass sie wenn sie die Wahl gehabt hätte, dieses noble Glasherz über ihr eigenes gestellt hätte.
Sie kannte ihn noch nicht lange. In seinen Adern floss das Blut einer Tyrannendynastie.
Sie hätten sich nie treffen sollen.
Was hatte er mit ihr gemacht? Was bei den Sternen hatte dieser blaublütige Schönling nur mit ihr gemacht?

Smokehands (Skythief pt. 2)Where stories live. Discover now