59 - Begehren

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Julian wusste sofort, dass sie wach war. Er hatte versucht, so leise wie möglich zu sein, doch sobald er sich von der Diebin löste, veränderte sich ihre Atmung.
Er saß auf der Bettkante und ließ seinen Blick für einige Momente auf ihr ruhen. Auf der schlanken Gestalt in seinem Pullover, den sie sich neulich erst förmlich von der Haut gerissen hatte. Auf den wilden Haaren, die gestern abend feucht an seiner Wange geklebt hatten, während er die Nase an ihrem weichen Nacken vergraben hatte.
Sie waren wieder an dem Punkt angelangt, an dem sie beinahe über die Klippe taumelten.
Wie gerne er einfach springen würde. Er hatte nichts mehr zu verlieren.
Julian fuhr sich durch sein ebenfalls chaotisches Haar und griff nach seinen Schuhen.

„Wie geht es dir?", fragte er in die Stille hinein.
War er wütend? Enttäuscht? Glücklich? Er wusste es selbst nicht. Sie wandte sich ächzend zu ihm um und spuckte eine pechschwarze Haarsträhne aus.

„Ich wünschte, ich wäre tot", nuschelte Cress Cye, was ihm einen ernsten tadelnden Blick entlockte. Dann erst nahm sie den Kotzeimer wahr, der neben dem Bett stand.
Er hatte ihn ausgewaschen, aber zur Sicherheit noch einmal mit zurück genommen.
Er verfolgte, wie ihr zu dämmern begann, dass sie in der letzten Nacht nicht nur in seinen Armen eingeschlafen war, sondern auch alle zwei Stunden aufgewacht war, um sich zu übergeben, bis sie nichts mehr in sich hatte. Ob es Gift oder Gegengift war, auf das Cress so stark reagierte, wusste er nicht. Sie traf seinen Blick und schloss die Augen, als würde sie beten, dass sie nicht wirklich den Kronprinzen vollgekotzt hätte. Mehrmals.
Unangenehm berührt zog sie die Decke fester um sich und setzte sich auf. Die Ringe unter ihren Augen waren so dunkel, dass sie aussahen wie blaue Flecke.

„Du siehst wirklich schrecklich aus", sagte er, „Vielleicht solltest du ‚vergiftet werden' und ‚fünf Leute zusammenschlagen' nächstes Mal auf zwei verschiedene Tage legen."
„Ach halt' die Fresse", murrte sie in ihr Kissen. Julian schnaubte amüsiert, streckte die Hand aus und streichelte ihr sanft den Rücken. Sie entspannte sich sichtlich unter seiner Berührung.

„Wir sollten uns einigermaßen zivilisiert anziehen", sagte er dann.
„Wieso das denn?", Cress lag eingewickelt in seinen Laken auf dem Bett und starrte an die Decke. Der Pullover war verrutscht, sodass ihre schwarze Unterwäsche ihn förmlich anlachte. Julian band sich seufzend weiter die Schuhe zu.
„Ich wurde schon für viele Dinge von diesen Idioten kritisiert, aber noch nicht für meinen Stil", hängte die Diebin noch an.
„Düster, blutig und bedrohlich?"
„Sagt der Prinz mit den Wollsocken."
Er ließ seine linken Schuh sinken und nahm die Herausforderung an.

Julian schwang sich zurück auf das Bett. Seine Hände stützte er links und rechts von ihrem Kopf ab. Sie machte keine Anstalten, vor seinem Blick zu fliehen.
„Weißt du, wie verdammt kalt es in dieser Kirche ist?", fragte er, als ihr Blick verstohlen zu seinen Lippen huschte. Ob seine Pupillen auch so groß geworden waren? Wahrscheinlich.
„Du brennst, Prinz. Kälte ist keine Entschuldigung für Strickmuster", erwiderte Cress nicht annähernd so gleichgültig, wie sie wahrscheinlich beabsichtigt hatte. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass jemals jemand einen schlechten Witz über seine Gabe gemacht hatte. Cress war die erste, die dieses tödliche Erbe nicht mit Angst oder Ehrfurcht in der Stimme erwähnte.

„Wieso hast du keine Angst vor mir, Cress Cye?", fragte er leise. Die Worte schienen nachzuhallen, wie ein Gebet, „Wieso bist du zu mir zurückgekommen?"
Sie hob eine ihrer lädierten Hände und ließ ihre Fingerspitzen über seine Wange streifen. Vorsichtig, als würde sie etwas Heiliges berühren.
„Ich glaube, du hast das Prinzip noch nicht verstanden", flüsterte sie, „ich fürchte, ich werde immer wieder zu dir zurückkommen."

Ihm wurde heiß, als er den schweren, süßen Unterton in ihrer Stimme wahrnahm. Dann waren seine Lippen auf ihren, ihre Hände in seinem Haar und die Welt taumelte. Die Flammen unter seiner Haut begannen zu tanzen, zu frohlocken, als sie ihre Hände über seine Brust wandern ließ. Er wollte ihr aus Gewohnheit sanft auf die Lippe beißen, hielt sich aber zurück, als er Blut schmeckte. Die Wunde war wieder aufgegangen. Schwer atmend lehnte er sich zurück. Leckte sich den metallischen Geschmack von den Lippen, während sie sich vorsichtig mit dem Hemdkragen die Lippe abtupfte.

„Lass mich das ansehen", forderte er. Sie begann dunkel zu grinsen.
„Du wirst mich an anderen Stellen küssen müssen."
Er biss sich auf die Wange, um seinen Gesichtsausdruck einigermaßen unter Kontrolle zu behalten, bevor er sich wieder zu ihr hinunter beugte. Normalerweise war er es, der Konversationen in diese Richtung lenkte.
„Mach' nur weiter so", raunte er, während ihre Lippen federleicht übereinander strichen, „Du wirst nichts finden, an das ich nicht schon gedacht hätte."
„Das weiß ich, seit du die Maße für das Abendkleid geschätzt hast."
Ihre Hände lagen an seinem Kiefer.
„So durchschaubar", hauchte sie.
Erst, als jemand gegen die Tür klopfte, zerbrach der Zauber.

„Ich will ja nicht stören", brüllte jemand durch das schwere Eichenholz, der sich verdächtig nach Gabriel Walsh anhörte, „aber ihr habt zehn Minuten, um in die Arena zu kommen. Beide."
Cress Blick war geschockt - verängstigt - geworden, als der Tänzer die Arena erwähnte. Julian verfluchte den Spion, seine Familie und die ganze Welt, die außerhalb dieser alten Mauern existierte und es wagte, die Diebin und ihn zu unterbrechen.
„Von was redet er?", hakte Cress nach.
„Angezogen", brüllte Walsh, als müsse er das noch gesondert ergänzen.

„Helena von Avescus veranstaltet nach altrömischer Manier Spiele", erklärte Julian, nachdem er sich die Freiheit genommen hatte, einen giftigen Blick in Richtung Tür zu werfen, „Wir sind geladen."
Ihr Gesicht verschloss sich von einer Sekunde auf die andere.
„Sie hat dich angefasst, als wärst du ihr Spielzeug."
Er schnaubte.
„Ich denke, die ganze Welt ist für sie nur ein Spielzeug."
Das machte ihren Blick zwar nicht milder, gab ihm aber Zeit, sich einigermaßen zu fassen und sein quälendes Begehren irgendwo unter Pflichtbewusstsein zu begraben.

„Es wäre unklug, die Einladung auszuschlagen", sagte Julian zähneknirschend, „Soweit ich das beurteilen kann, ist Helena niemand, den man zum Feind haben will. Außerdem hätte Achill die Wahrheit über die Sterne wahrscheinlich noch viel länger verschwiegen, wenn sie mich nicht mit der Nase darauf gestoßen hätte."

„Dafür sollten wir uns also zivilisiert anziehen", knurrte sie, „Eine Machtdemonstration von Hades Ex Frau."
Er küsste ihre nun in feine Falten gelegte Stirn.
„Ich habe noch nie in meinem Leben Kotze für jemanden weggewischt. Tu' mir den Gefallen und geh' ihr im Gegenzug nicht sofort an die Kehle. Mordanschläge nehmen Politiker in der Regel persönlich."
Cress lief rot an, bevor sie sich von ihm in die Höhe ziehen ließ.
„Dafür hast du ihnen aber schnell verziehen", gab sie zurück, während sie mit finsterer Miene die Laken auf das Bett pfefferte.
„Cress Cye", gurrte Julian, „Ich denke nicht im Traum daran, ihnen für irgendetwas zu verziehen."
Sie sahen sich einen langen Moment an. Damit war es beschlossene Sache.

Smokehands (Skythief pt. 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt