78 - Schwerelos

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Die Schreie verschwammen miteinander, gingen ineinander über, während Cress Kopf auf das Pflaster vor der Curia sank. Ihre Brust war nass vor Blut, ihre Welt zu einem abstrakten Gemälde geworden. Sie glaubte, die Körper, die um sie her auf und ab wogten, würden flüssig und schlügen über ihr zusammen, wie die Wellen des Styx. Fast war ihr, als wäre sie wieder dort, am Ufer des Flusses und säße neben Julian auf den Steinen, zitternd trotz seiner Jacke. Die gleichen blauen Augen, die gerade so grausam auf sie heruntergesehen hatten, lagen nun nachdenklich und ruhig auf ihr.

„Achill hat dir erklärt, was sie bedeuten", hörte Cress sich selbst sagen. Dann tauchte sie vollkommen in die Erinnerung ein, die plötzlich so lebensecht vor ihren Augen stand.

Julians Haar war durcheinander, sein Kopf gesenkt. Er starrte wieder die Tinte auf der Innenseite seines Handgelenks an, als könne er sie allein durch Willenskraft zum Verblassen und Verschwinden bringen.

„Er wollte, dass ich derjenige bin, der es dir sagt."

Wasser tropfte aus Cress Haaren auf ihre Schultern.

„Achill sagt, dass die Vögel keine Tierzeichnungen sind. Es sind zwei Runen, aber keine, die von Menschen erfunden wurden."

„Was willst du damit sagen?", flüsterte sie.

„Man hat uns Namen auf das Handgelenk tättowiert. Namen von mächtigen Esterel Familien."

Ihre Stille war geschockt, ungläubig.

„Und das Seltsamste daran ist, dass ich nicht den Namen der Feuerfamilie trage. Sondern du."

Er nahm ihr Handgelenk und legte ihre Unterarme aneinander, sodass sich die blauen Vögel unter ihrer Haut ansehen konnten. Seine Finger huschten über ihr Tattoo und jagten eine Gänsehaut ihren Arm hinauf.

„Feuer, Licht, Leben", er deutete auf ihr Tattoo, bevor er zu seinem eigenen wechselte, „Wasser, Dunkelheit", er holte tief Luft, „und Tod."

Cress starrte auf ihre Haut, auf seine Haut, und verstand noch weniger, als jemals zuvor.

„Sie ergänzen sich", versuchte sie, es nachzuvollziehen.

„Nicht nur die Tattoos", er verschränkte ihre Finger mit seinen, „Wir ergänzen uns."

„Aber, du kannst Feuer aus dem Nichts herbeirufen ..."

„Ja", sagte er, „Und du kannst von Klippen springen, ohne dir mehr als einen Kratzer zuzuziehen."

Sie starrte ihn an. Kam auf die Beine.

„Niemals."

„Cress", Julian stand ebenfalls auf. Im Gegensatz zu Cress zitterte er nicht in der klammen Kälte der Höhle. Sie begann auf den hellen Steinen auf und ab zu laufen, barfuß, rastlos.

„Du hast mich nie vor dem Aufprall geschützt, als ich gesprungen bin", sagte sie, „Das geht wahrscheinlich gar nicht. Nichts hat mich geschützt."

„Du warst es selbst", sprach er aus, was sie nicht hören wollte, „Du hast dich gerettet. Nicht ich und auch niemand sonst hat dafür gesorgt, dass du den Sturz und später das Gas überlebt hast."

Er kam auf sie zu, sah sie beinahe mitleidig, flehentlich, an, was sie nur noch rasender machte.

„Wie?", Cress warf die Arme in die Luft, „Was soll das alles?"

Sein Blick war zärtlich, aber auch traurig, als würde er ihr all das am liebsten ersparen.

„Meine Mutter hat mir erzählt, dass ich als Baby eine Treppe hinuntergestürzt bin und mir den Kopf so fest angeschlagen habe, dass sie dachten, ich würde sterben", begann Julian. Entsetzen packte Cress.

„Aber ich bin nicht gestorben", sprach Julian das Offensichtliche aus, „Es war wie ein Wunder, sagte man mir. Auch als ich Jahre später mitten im Kaminfeuer lag bin ich nicht gestorben. Ich hatte nicht einmal einen Kratzer. Erst dann habe ich verstanden, dass ich etwas kann, das niemand bei Hof auch nur für möglich hält. Schon bevor das Feuer sich gezeigt hat, war ich nicht normal. Es war nur subtiler."

Cress starrte ihn an.

„Du trägst das Zeichen meiner Esterelfamilie", flüsterte er so leise, dass man ihn über das Rauschen des Flusses kaum verstehen konnte, „Und ich das Zeichen deiner Familie."

Sie musste dem Drang widerstehen, ihren Kopf in das reißende Wasser des Flusses zu stecken und zu schreien. Julians Augen waren hell, als er nach ein paar Momenten die Hand an ihr Gesicht hob. Die Verzweiflung, die Zärtlichkeit, die daraus sprach, raubten ihr den Atem.

„Du bist wie ich, Cress Cye", sagte er erstickt, „Ich weiß nicht, wieso oder wie, aber du warst die ganze Zeit wie ich."

„Habe ich deswegen den Sprung überlebt?", fragte sie irgendwann durch taube Lippen. Julian ließ die Hand sinken, drehte seine Handfläche nach oben, sodass sie ihre Finger mit seinen verschränken konnte. Sein Blick war unergründlich. Abnormalität. Monster. Gott. Teufel. Silberne Funken tanzten über ihre Haut. Sie spürte sie, wie winzige elektrische Schläge, aber so schwach, dass sie nicht weh taten.

„Wir wissen nicht, was du kannst", sagte Julian beinahe ehrfürchtig, „Deine Gabe ist noch nicht in Erscheinung getreten, deswegen wirst du indirekt von ihr geschützt. Deine Seele wird deinen Körper nicht verlassen, hat nicht einmal die Möglichkeit dazu, bevor du vollkommen erwacht bist. Momentan", er holte tief Luft, strich mit dem Daumen über ihren Handrücken „Momentan kann dich nichts auf dieser Welt umbringen. Weder Klippen oder Gift, noch Königinnen oder ... ich. Du bist der einzige Mensch, dem ich nahe sein kann, ohne ihn in Todesgefahr zu bringen."

Seine Stimme brach. Die Verletzlichkeit, die der mächtigste Mann der Städte an den Tag legte, ließ Cress Knie zittern.

„Das ist unmöglich", flüsterte sie, zog die Venen auf seinem Handrücken nach, in denen Götter- und Menschenblut gleichermaßen floss, „Absolut unmöglich."

Er lachte trocken und nahm ihre Hand noch fester. Sie sahen sich an und es war, als würde die Welt innehalten, um sie nicht zu stören. Der Fluss schien leiser, die Stadt weiter entfernt und alles hielt den Atem an, während Julian vorsichtig die Hand in Cress Nacken legte.

„Bitte", flüsterte er, „Fühl' dich mir nicht verpflichtet. Du bist mir nichts schuldig und daran ändert deine Herkunft nicht das geringste."

„Du denkst, dass ich nicht hier sein will?", fragte sie. Die Diebin kniete links und rechts von Julians Beinen auf den hellen Steinen und sah durch ihr dunkles Haar zu ihm hinab. Ihre Arme legten sich wie von selbst um seinen Hals.

„Ich habe nicht eine Knochenschwester für dich zusammengeschlagen, weil irgendwelche Götter das so wollten. Ich bin nicht für dich in die Arena gesprungen, weil wir beide diese Tattoos tragen."

Sie war sich nicht sicher, ob sie jemals schon so zärtlich mit jemandem gesprochen hatte, als sie sein Gesicht in die Hände nahm.

„Wieso wissen alle, wie sehr ich dich liebe, nur du nicht?", flüsterte sie die Worte, die er in der Kapelle in ihr Haar gemurmelt hatte, als er glaubte, sie würde schlafen.

„Ich bin nicht der Held, den du verdienst", entgegnete er irgendwann, „Ich bin ein Monster, Cress Cye."

Jeder andere hätte die Flucht ergriffen, als silberne Funken in Julians Augen aufglommen, doch Cress streifte nur mit einem leisen Lachen seine Nasenspitze mit ihrer eigenen.

„Du? Du könntest nie ein Monster sein", sie war so nah, dass sie seine dunklen Wimpern zählen könnte, „Und für die Menschen, die dich zu ihrem Feind machen, bin ich gerne ein Monster."

Sie küsste ihn, wie sie noch nie einen Mann geküsst hatte, während die Stromschnellen des Styx dunkel hinter ihnen schäumten. Bis auf Julians Haut, seine Augen, seine Hände, existierte nichts mehr in der Welt. Sie hätte sterben können, in diesem Moment, und ihr gesamtes düsteres Leben wäre aufgewogen worden durch die Hingabe in seinen Berührungen. Cress zog Julians Unterlippe mit dem Zeigefinger nach, als würde sie sich jede noch so kleine Rille darin einprägen wollen. Er küsste ihren Hals, während sie ein Versprechen in die Nacht flüsterte, das Königreiche zu Fall bringen könnte:

„Dann sind wir zusammen Monster."

Smokehands (Skythief pt. 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt