47 - Widernatürlich

978 140 27
                                    

Der Mann sah aus, als bestünde er aus reinem Licht, das jemand gerade so in einer dünnen Hülle aus Haut gefangen halten konnte.
Sein Haar war lang und schwebte durch das dunkle Wasser unter dem Glas, wie silbernes Seegras.
Obwohl er nackt war und schlief, war der Stern furchteinflößender als jeder Krieger in voller Rüstung, den Julian in seinem Leben gesehen hatte.
Das Gesicht des Gottes war jugendlich, kühl und schön, mehr griechische Marmorstatue als Mensch.

Die Stille der riesigen Höhle hatte etwas Bedrohliches angenommen, als hätte eine ferne, mächtige Kraft von einem Moment auf den anderen ihr Augenmerk auf die kleine Gruppe Menschen gerichtet, die so tief in den Eingeweiden der Erde kurz davor standen, ihren Verstand zu verlieren. Julian und Cress klammerten sich aneinander fest, als wären sie beide kurz davor, in Ohnmacht zu fallen.

„Eure Sterne waren nie so weit entfernt, wie die Hohe euch glauben ließ", erklärte Achill Valeria düster.

Der Esterel leuchtete so hell, dass seine Umrisse noch in Julian Blickfeld nachleuchteten, als er den Blick zu Achill hob.
Er brachte kein Wort heraus.

„Dieser hier", der Valeria deutete mit düsterer Miene hinunter auf den schlafenden Gott, „ist der Grund, wieso wir alle noch leben. Wäre er nicht hier, hätte kein einziger Mensch den letzten großen Krieg überlebt."

Immer noch hämmerte Julians Herz in seinen Ohren, als hätte ihn jemand von einem Moment auf den anderen auf ein Schlachtfeld geworfen.
Man hatte ihn im Sinne der Ordensreligion erzogen, natürlich, doch hatte er die Sterne und alle Beweise, die man für ihre Existenz erbrachte, immer abgetan. Jetzt sah er sich mit einem Beweis konfrontiert, den er nicht belächeln konnte. Wenn er in diesem Moment irgendetwas tun wollte, dann war es davonlaufen.

„Julian", flüsterte Cress, „du tust mir weh."

Das brach den Bann.
Er riss seinen Blick von der leuchtenden Gestalt los und stellte fest, dass er die Finger im Schock so fest in ihren Arm gedrückt hatte, dass sich seine Fingernägel als Halbmonde auf ihrer Haut abzeichneten.
Hastig ließ er sie los, entschuldigte sich mehrmals.
Sein Puls raste. Sein Blick sprang immer wieder zwischen dem Esterel und den beiden Unterweltlern hin und her, die ungerührt dastanden, als würden sie etwas Alltägliches wie einen Sonnenuntergang betrachten und nicht ein paar Meter entfernt von einem leibhaftigen Gott stehen.

„Er liegt hier, seit sein Schiff im großen Krieg von unseren Ahnen verheerend getroffen wurde", fuhr Achill fort, während er sich auf dem Geländer abstützte, das den Krater umspannte. Lack blätterte davon ab. „Über die Jahre hinweg hat man ihn angebetet, versucht ihn umzubringen und aufzuwecken. Wir können uns glücklich schätzen, dass keiner dieser Versuche Erfolg hatte."

Julian wollte sich dagegen wehren, dem Valeria ohne Weiteres zu glauben und hätte das auch sicher getan, wenn Achill nicht so klug gewesen wäre, sie hier herunter zu bringen, bevor er sein Geheimnis lüftete. Seine vielen, unheiligen, tödlichen Geheimnisse, die alles ins Wanken brachten, was Julian für unantastbar gehalten hatte.
Vorsichtig, als könne jeder seiner Schritte den leuchtenden Mann aufwecken, trat er bis ganz an die Kante und lehnte sich über das Geländer, um noch einen besseren Blick zu haben.

Obwohl sich der Körper des Esterel wage an dem eines Menschen orientierte, hielt man ihn nicht einmal auf den ersten Blick für einen normalen Mann. Er hatte zu scharfe Kanten, als hätte jemand eine lebensechte Statue schaffen wollen und wäre nie zu einem Ende gekommen. Die Transparenz, die Flüchtigkeit seiner Gestalt, stand im scheinbaren Widerspruch zu seinem massiven Körperbau. Man sah auf den ersten Blick, dass es sich um einen Krieger handelte. Einen Krieger, der seit einem Jahrhundert unter dieser Glasscheibe lag, wenn man dem Valeria glauben konnte.

„Wie ist das möglich?", flüsterte Julian, als er endlich seine Stimme wiederfand.
Er hatte bis vor wenigen Wochen nicht einmal gewusst, dass es eine zweite Stadt gab. Jetzt stellte sich heraus, dass mehr als doppelt so viele Menschen den Krieg überlebt hatten, als man allgemein angenommen hatte. Dass es viel mehr Farblose als Farbträger gab. Und, dass unter den beiden Städten ein Gott schlief.
Wie viele solch fundamentaler Dinge gab es noch, von denen er nichts wusste?

"Es gelang uns, ein einziges Schiff der Esterel zum Absturz zu bringen. Wäre dieser General nicht darin eingeschlossen worden, hätte die feindliche Armada keinen Grund gehabt, uns zu verschonen", fuhr Achill fort.

„Er ist eine Geisel", stellte Julian mit rauer Stimme fest. Er konnte es immer noch nicht fassen.

„Er ist die Geisel, Julian d'Alessandrini-Casanera", korrigierte Achill, „Unsere ganze Existenz konnte nur darauf aufbauen, dass wir sein Leben auf die Wagschale legen konnten."

Julian wurde bewusst, dass der Valeria in das ‚uns' wohl nicht nur die Bewohner seiner Stadt einschloss.
Er schien das ‚uns' auf alle Menschen auszudehnen, unabhängig von Stadtzugehörigkeit, Religion und Farbe. Im Angesicht eines solchen Gottes schien es leichter, die Grenzen, die sie alle zwischen sich errichtet hatten, wieder abzubauen. Cress lehnte sich neben ihm auf das Eisengeländer.

„Was ist er?", fragte sie in einer Mischung aus Furcht und Faszination.

„Sie haben viele Namen. Esterel ist der am häufigsten benutzte. Sie ... sind nicht wie wir. Die Armada, die die Menschheit fast ausgerottet hätte, funktionierte vollkommen anders, als alles, was wir kannten. Hunderte hervorragend ausgebildeter Soldaten konnten einem Einzigen dieser Krieger nicht standhalten", sein Blick traf Julians, „Was sie können, ist beängstigend. Widernatürlich."

Der Blick des Valeria schien sich durch Julians Kopf zu brennen. Beängstigend. Widernatürlich.
Rauch kitzelte seinen Rachen. Hitze strömte in seine Fingerspitzen. Wie die Glut eines beinahe erloschenen Feuers regte sich etwas Verheerendes, Uraltes, Unbegreifliches in ihm, als ob es sich angesprochen fühle.

„Was willst du damit sagen?", fragte der Königssohn langsam.

Achill Valeria verzog keine Miene.
„Es ist nicht das erste Mal, dass wir eine solche Gabe sehen. Sie wurde auf den Schlachtfeldern des großen Krieges eingesetzt, um unsere Spezies auszurotten."

Julians Kiefer mahlten, während die Puzzlestücke an ihren Platz trudelten. Achill hielt seinem Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken.

„Was auch immer du bist, deine Gabe ist nicht menschlich. Ein gutes Jahrhundert lange wurde diese Erde von keinem Esterel mehr heimgesucht. Jetzt bringt ausgerechnet ein Prinz der oberen Stadt die tödlichste der Gaben mitten in unsere Reihen."

Smokehands (Skythief pt. 2)Where stories live. Discover now