14 - Singvogel

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Walsh fand sie völlig aufgelöst in der Dunkelheit, mit einer blutenden Schramme über dem Schlüsselbein und zitternd vor Wut. Cress bemerkte ihn nicht, bis er sich auf das Bett setzte und die Matratze unter seinem Gewicht nachgab. Einen Moment saß er einfach nur da, bevor sich eine warme Hand auf ihren Arm legte.
Er streichelte tröstend über ihre Haut, während sie die Augen fest zusammengepresst hatte und sich vorstellte, dass es Julian war, der zu ihr gekommen war.
Zu ihr und nicht zu May.

Walsh saß lange bei ihr, stumm, bis er begann ein altes Lied aus dem farblosen Bezirk zu singen. Keines, das von der Macht der Sterne und Laurelines Opfer sprach. Nicht einmal kamen die Worte Licht, Silber, Feuer und Triumpf darin vor. Es war ein einfaches Wiegenlied, das hungrige Kinder besänftigen sollte.

Walshs war kein überragender Sänger, aber sein Tenor schlug dennoch eine Saite in ihr an, die schon lange nicht mehr geklungen hatte. Das Lied war so alt, dass es noch nicht in der letzten Sprache geschrieben worden war, sondern in einer der Verlorenen. Es kam aus den jüngsten Tagen der letzten Stadt, als die Menschen noch ein Flickenteppich aus Nationen waren. Das einzige, was sie alle verband, war ihre Flucht vor der Grausamkeit des großen Krieges. Nach der Rettung durch den Stern waren all ihre Sprachen über die Jahre hinweg zu einer einzigen verschmolzen. Doch Walsh klang, als wäre die tote Sprache, die teilweise so ähnlich klang, wie die der letzten Stadt, die einzige, die er je gekannt hatte.

When the bright sun fades and nightingales sing
When westwind blows softly in early spring
When the moon and the stars shoo nightmares away
My dear, my dear, it's the time of the fay

Above and below,
On water, on land,
In sky and deep,
All children sleep,
Waiting for dreams spon of moonlight and air.

Goodbye, oh sun, sleep well in the vale,
While nights silver-winged dancers fall with the hail,
Close you eyes now, child of the light,
And sleep through another star-blessed night.

Als die letzten Worte verklungen waren, wagte sie es noch ein paar Atemzüge, die Augen fest zusammengepresst zu halten. Sie fühlte sich fast, wie damals, als ihre größten Sorgen noch die Essensrationen des braunen Bezirks und die nervigen Mädchen waren, mit denen sich ihr Bruder traf. Als wäre es einer dieser Morgen, an denen der Teekessel gleich beginnen würde, zu pfeifen. Gleich würde sie die Schritte ihres Vaters auf der Treppe hören, das Klappern von zwei Tassen auf den Esstisch. Ein leises, kurzes Gespräch mit ihrer Mutter, das trotz allem zärtlich klang. Dann würden sie die Tassen in die Spüle stellen, ganz leise, damit Cress und legte sich wieder Stille über die beiden, den gelben Tänzer, der eigentlich ein Spion der unteren Stadt war, und die farblose Diebin, die vor Angst um den blauen Kronprinzen halb wahnsinnig war.

„Komm, es wird bald morgen", sagte Walsh nach einer Zeitspanne, die Sekunden oder Jahre gedauert haben konnte, „Er wird es leichter ertragen können, wenn er weiß, dass du ihn nicht verlassen hast."

Sie bewegte sich zuerst nicht, ausgelaugt von zwei Schlägereien in den letzten vierundzwanzig Stunden, dem Schreien, dem Weinen und all den Lügen. Aber dann, langsam, als würde man sie zum ersten Mal zum Leben erwecken, stützte sich Cress auf.

„Du siehst schrecklich aus, Zuckerpuppe", stellte Walsh ohne auch nur einen Hauch von Hohn in der Stimme fest. Sie wischte sich über die Wangen, bevor er ihr ein Taschentuch reichte.

„Danke."

Sie schnäuzte sich unfein in sein Taschentuch, was ihn normalerweise an die Decke springen gelassen hätte, aber wenn überhaupt wurde sein Stirnrunzeln och ein wenig düsterer. Aufmunternd tätschelte er ihren Oberschenkel.

Smokehands (Skythief pt. 2)Where stories live. Discover now