30 - Spuk

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Um Punkt zwölf Uhr mittags hatten sich Vertreter des gesamten Stadtadels in der Curia versammelt, um eine Erklärung für etwas zu hören, das nie hätte geschehen sollen. Getuschel summte in der Luft herum, wie ein aufgeregter Bienenschwarm. Die Jungen waren nervös, die Religiösen beteten unauffällig zu der Göttin selbst, die Alten standen stumm und düster wie die Statuen ihrer Vorväter.
Man wusste nicht genau, ob sie das alles taten, weil der Kronprinz ein Amphitheater voller Abgeordneter und Bürger ausgebrannt hatte, oder weil Helena von Avescus im Raum war.

Die Berglöwin stand neben ihrem Familienbanner, das immer noch in Bronze gegossen an einer der Wände thronte, um ihren rechtmäßigen Platz in der Curia zu markieren. Seit Jahren hatte niemand mehr unter dem aufgerissenen Löwenmaul mit der einen, stilisierten Flamme darin gestanden. Und es hatte sicher niemand damit gerechnet, dass das so schnell wieder geschehen würde. Helena war zu einer Sagengestalt geworden, während ihrer Abwesenheit. Sie jetzt in Fleisch und Blut zu sehen, war ähnlich unrealistisch wie der Grund, aus dem sie hier alle versammelt waren.

Hades trug seinen Siegelring wieder. Er hatte nicht geschlafen, seit der missglückten Hinrichtung. Das hatten die wenigsten.
Während er mit seinem verletzten Sohn und dem Tänzer um sein Leben rannte, hatten Achill und Theseus ihr Bestes getan, um die Stadt mit eisernem Willen unter Kontrolle zu halten. Einen Aufstand niedergeschlagen, den betroffenen Stadtteil abgesperrt, Lazarette organisiert und die Ritter koordiniert.
Jetzt standen sie beide auf dem Rednerpodest und warteten darauf, dass er die Stufen hinaufstieg.

Persephone richtete neben ihm ihren Kragen. Sie war alleine hier, ohne einen einzigen Advokaten.
Sie würde das Stadtrecht vertreten, wenn es zu blutrünstigen Forderungen kam – wovon er ausging. Nur zusammen repräsentierten sie die Ideale, auf denen diese Mauern erbaut worden waren.
Wage und Schwert. Recht und Ordnung.
Ideale, die sie beide verraten hatten, um einem Krieg aus dem Weg zu gehen. Anscheinend hatten sie es damit nur schlimmer gemacht.
Die Variablen waren verrutscht.
Alles schien möglich.
Recht und Ordnung waren in den Grundfesten erschüttert worden.

„Deine Frau ist hier", bemerkte Persephone.
Er brummte nur irgendetwas. Er war sich nicht ganz sicher, ob Helenas Auftauchen nicht sein schlimmstes Problem werden würde.

„Hast du schon mit ihr gesprochen?"

„Natürlich nicht."

„Das könnte sich zu einem Problem entwickeln."

„Das ist schon jetzt ein Problem."

Sie kaute an ihrer Lippe. Das einzige Anzeichen dafür, dass auch sie nicht so ruhig war, wie sie alle denken ließ.
Beide dachten dasselbe:
Der Zeitpunkt für die Rückkehr der Löwin war viel zu gut gewählt. Als hätte sie gewusst, dass die Hinrichtung des Prinzen eskalieren würde, um dann von ihrem Berg herunterzusteigen, wie eine rettende Palas Athene. Vielleicht war es Zufall, vielleicht war es etwas viel Schlimmeres.

„Bereit?", fragte er und traf ihren besorgten Blick.

„Lass uns gehen."

Als sie in das Licht des Versammlungsraums hinaustraten, wurde es still. Als hätten sie die Panik zurückgelassen und wären in das nächste Stadium des Entsetzens eingetaucht.
Sie stiegen die Stufen hinauf.
Hades nickte seinen Söhnen zu. Dann wandte er sich um und stellte sich den Blicken.
Er hatte kein Skript, wie sonst. Nur Stichpunkte auf einem Fetzen Papier, eilends zusammengesetzt.
Er stand einen Moment dort, ruhig und gefasst, bevor er begann:

„Gestern Abend sollte die Hinrichtung des durch beide Gerichte zum Tode Verurteilten Julian d'Alessandrini-Casanera, Kronprinz der Sonnenstadt, stattfinden."

Worte wie Glockenschläge.

„Was stattdessen stattgefunden hat, war ein Massaker an den Bürgern unserer Stadt. Menschen, die auf unseren Schutz angewiesen sind. Noch sind keine genauen Verlustzahlen bekannt."

Gemurmel.

„Ich sehe viele von euch beten", fuhr er fort, „weil eine Sekte ihn heiliggesprochen und zum Sohn der Göttin erklärt hat. Ein grausamer Messias, der gekommen ist, um uns alle für unsere Sünden büßen zu lassen."

Spannung lag in der Luft. Die atheistische Mehrheit blieb stumm.

„Doch in der blauen Welt, aus der der Verurteilte kommt, verschwimmt die Grenze zwischen Gott und Mensch. Hochentwickelte Technologien sichern ihre Herrschaft.
Noch untersuchen unsere Wissenschaftler das Amphitheater, um diesen Spuk aufzuklären.
Sie werden keinen Ichor, kein Götterblut, dort finden, sondern die Überreste einer Waffe.
Wir kennen die Arroganz der Sonnenmenschen und ihr blindes Streben danach, in die Geschichte einzugehen.
Wir werden herausfinden, dass es der Narzissmus des Prinzen war, dass Menschen sich an ihn erinnern, selbst nach seinem Tod. Behaltet im Gedächtnis, dass er geblutet hat, wie jeder von uns es tun würde.

Er ist ein Mensch.
Nicht mehr und nicht weniger. Ich bin hier, um euch zu sagen, dass ihr die Panik, die sich mit der Verbreitung der Nachrichten breit machen wird, mit Rationalität zum Schweigen bringen müsst.
Denn wir werden weder die Stadtteile auf ewig voneinander absperren, noch die Journalisten in ihrer Arbeit hindern. Das spräche gegen alles, wofür wir als Staat stehen. Wir sind nicht bereit, ein Tyrannenkind auf uns abfärben zu lassen."

Zustimmung. Ablehnung. Entsetzen darüber, dass er sich an seine eigenen Regeln hielt, schlugen über ihm zusammen.
Helena von Avescus traf Hades Blick. Sie hatte die unverschämte Arroganz, zweifelnd eine Augenbraue zu heben.

„Es wird nicht einfach, doch wir müssen eine Massenpanik mit allen Mitteln unterbinden. Die Stadt ist voller, denn je zuvor. Viele sind erst seit kurzem hier. Ich muss euch allen nicht sagen, wie zart der Frieden unter den verschiedenen Gruppen ist."

Sein Blick schweifte durch den Raum, schloss alle ein.

„Ich stehe hier, als euer gewählter Vertreter, um euch alle in dieser dunklen Stunde zur Einheit aufzurufen.
Die Bedrohung geht nicht von den Menschen in diesem Raum aus.
Sie liegt in einem Gefühl, das Menschenherzen in der Luft zerfetzt: Panik.
Ich rufe euch auf, Erbfeinden die Hand zu reichen.
Ich rufe euch auf, Blutfehden ruhen zu lassen.
Ich rufe euch auf, zusammenzustehen.
Ich rufe euch auf, das zu repräsentieren, was euer Volk von euch erwartet.
Ich rufe euch auf, diese Nacht zu einer der Versöhnung zu machen und nicht zu einer der Angst.
Denn wenn ein Glied dieser Kette versagt, wenn sich einer von euch über meine Anweisungen hinwegsetzt oder sie nur zum Teil ausführt", er hielt inne, „dann wird diese Stadt untergehen, wie Athen. Wird zerschmettert werden, wie Rom. Fallen wie Paris und Berlin, Moskau und Washington D.C. Nicht, weil fremde Armeen so viel stärker wären, sondern, weil Egoismus und Werteverfall die eigene Stärke bröckeln lassen.
Unsere Zeit ist noch nicht gekommen, Freunde. Ich bitte euch, als Mann, als Vater, als euer gewählter Vertreter, lasst eure Stadt nicht an der Tat eines Blauen zerbrechen. Lasst uns die Stärke, die Gewitztheit und die Werte hochhalten, die uns seit Jahrhunderten Frieden beschert haben.
Steht zusammen. Bändigt die Angst. Besiegt sie. Und zusammen werden wir aus diesem Feuer aufsteigen, wie ein Phönix aus der Asche."

Dann brach die Hölle los.
Dass es immer noch keine wirklichen Antworten gab, dass sie ihre Fehden begraben sollten, dass sie alle ein Gefühl bekämpfen mussten und nicht einfach jemanden hinrichten lassen konnten, war so unerhört und bestätigte die Ernsthaftigkeit der Situation auf so groteske Weise, dass sie es nicht fassen konnten.
Achill und Theseus standen hinter ihrem Vater. Tauschten einen Blick.

Was würde geschehen, wenn der Adel die Wahrheit erfuhr?
Dass die Wissenschaftler bereits fertig waren mit ihren Analysen und dass man absolut nichts gefunden hatte?
Astra, die als Vertreterin der religiösen Minderheit ebenfalls auf dem Podest stand, um ihre Unterstützung für seinen Vater zu unterstreichen, wandte nur leicht den Kopf, ohne ihn aus blinden Augen anzusehen.
Jede Lüge seines Vaters hatte Achill entgegengeleuchtet, wie eine sterbende Sonne.
Denn nur zwei Menschen in diesem Raum hatten eine fundierte Vermutung, wer Julian d'Alessandrini wirklich war. Lange würden sie es nicht verbergen können.
Die Uhr tickte.
Der Quecksilbertropfen hatte die Stadt erreicht. Noch wusste niemand, wie unerhört diese Begebenheit wirklich war.

Smokehands (Skythief pt. 2)Where stories live. Discover now