12 - Hässliche Wahrheit

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(Sorry für die Verspätung; Aber: ich habe heute nach langer Zeit endlich meine Seminararbeit abgegeben, yey!)

May saß immer noch auf der Bank, als sie Julian hereinbrachten.
Er sah schrecklich aus.
Dünner und weniger gesund, ein Geist von dem charismatischen Jungen, der sie vor scheinbar einem halben Leben zum Tanzen aufgefordert hatte. Diese wenigen Wochen, in denen sie keine Sonne gesehen hatten, hatten sowohl ihn als auch sie stark verändert.

Sie waren als zwei junge Adlige aus dem Kern gekommen, die davor noch nicht sehr weit über ihren Tellerrand hinausgesehen hatten.
Jetzt wusste May nicht mehr, was sie beide waren. Keine Adligen in dieser Stadt, sondern Ausgestoßene.
Man hasste sie für genau das, was Ihnen zuvor alle Türen geöffnet hatte: Ihre Farbe. Ihre Familie.
Die aktuelle Situation wirkte wie ein verzerrtes negativ ihres früheren Lebens. Alles war innerhalb weniger Stunden auf den Kopf gestellt worden, sodass sie orientierungslos durch das taumelten, was früher die Wolken über ihnen gewesen waren.

Sie waren keine Freunde.
May wusste nicht, was sie waren.
Er hatte sie in das hier hineingezogen. Sie hatte seine Jugendliebe umgebracht.
Wegen ihm war ihr Bruder ermordet worden.
Er hatte geschworen, den Mörder zu finden und zu bestrafen.
Sie hatte ihm das Leben gerettet, als er festgebunden auf dieser Liege gelegen hatte, während die beste Ärztin des Ordens, ihre Mutter, auf Befehl seiner Schwester versucht hatte, ihn in eine willenlose Marionette zu verwandeln.

Sie waren keine Freunde.

Und seitdem sie Cress gefunden hatten, hatten sie sich nicht mehr gesehen.

Einen Moment lang sahen sie sich einfach nur an, nahmen die Augenringe, Blässe und gehetzten Blicke des anderen wahr, die fremde Mode, nachlässigen Frisuren, Mays fehlendes MakeUp und ihre abgekauten Nägel. Sie spürten die Kluft zwischen diesem Moment und dem Leben davor mit jedem Atemzug größer werden. Ob sie je wieder daraus empor klettern würden?

„Wie geht es dir?", fragte er, eine viel zu alltägliche Frage, um dieses Gespräch zu beginnen. Eine Frage, die man sich auf den Korridoren der weißen Türme freundlich zugerufen hatte, als Mays Welt noch unerschüttert war. Unerschüttert von der Tatsache, dass die letzte Stadt der Erde nicht die letzte Stadt war.

„Besser als dir", flüsterte sie, überwältigt davon, was alles Geschehen war, damit sie sich hier so trafen.

„Wohl wahr", lachte er freudlos, „Und das, obwohl du erschossen wurdest."

Ihr nasses Haar malte dunkle Flecken auf den fliederfarbenen Stoff, den sie trug.

„Darf ich mich setzen?", fragte Julian, so leise, wie sie ihn noch nie erlebt hatte.

Sie nickte und er ließ sich neben ihr auf die Bank sinken. Im Stehen war er einen halben Zentimeter kleiner als sie, aber im Sitzen war er größer.

„Wieso lassen sie mich nicht aussagen?", fragte sie, leise, als ob sie mit jemandem sprechen würde, der bei einem zu lauten Wort zerbrechen würde. Dann ging ihr auf, dass sie selbst es war, die zerbrechen würde unter der Last der Veränderung. Kein Marmor also, sondern nur Porzellan.

„Du bist selbst angeklagt, May. Sie sagen, dass du keine belastbare Zeugin bist."

Das wusste sie schon. Natürlich wusste sie das.

„Sie wissen, dass meine Aussage dich retten könnte."

Der zum Tode verurteilte Kronprinz schwieg, hatte die Nasenwurzel zwischen seinen Daumen eingeklemmt, als hätte er Migräne, und die Augen geschlossen.

„Demokratie", schnaubte sie.

„In der Monarchie über unseren Köpfen würde man mich genauso hinrichten, May."

„Niemand kann dich einfach so hinrichten, Julian", entgegnete sie.

„Dafür sieht es aber im Moment sehr danach aus, als würde ich morgen sterben."

Die Worte hallten in dem viel zu luftigen, viel zu hellen Raum nach, ungewohnt bitter und abgekämpft für den vor ein paar Wochen noch so strahlenden jungen Mann. Aus einem seltsamen Impuls heraus griff sie nach seiner Hand. Er hatte nicht damit gerechnet, zuckte aber auch nicht zurück.

„Du hättest zu ihr gehen sollen, Julian. Cress hätte das besser gekonnt, als ich."

Julian wusste es. Natürlich wusste er es. Er spürte die Frage auf sich zu rollen, spürte, wie er den Boden unter den Füßen verlor und mit ihr fortgeschwemmt wurde, bevor May sie überhaupt aussprach.

„Wieso bist du zu mir gekommen?"

Wut. Funken. Feuer. Und dann nur noch Asche und Rauch.

Er musste es ihr sagen, bevor er starb. Sie hatte ein Recht darauf, zu erfahren, was geschehen war. Der einzige Weg, um noch ein bisschen von seiner Ehre zu behalten, wäre gnadenlose Ehrlichkeit.
Aber sie hielt seine Hand, obwohl sie ihn gar nicht mochte. Sie war da, obwohl sie es nicht sein müsste. Es waren Wochen der geheimen Planung, tödliche Geheimnisse und diese wenigen Stunden während Dominiques Putsch, die sie zusammenbanden.

Er könnte das mit einem Satz alles in Rauch aufgehen lassen. Nur ein Satz.

Ihr Händedruck wurde kaum merklich fester. Sie wartete immer noch auf eine Antwort.

War er ein Feigling?
Oder war er gnädig?
Zu ihr noch mehr als zu sich selbst?

Wenn er starb, würde nie jemand davon erfahren. Wenn er starb, würde sie es nie herausfinden. Nur er wüsste, dass er seine Strafe erhalten hatte.

Also war er ein Feigling, wenn er jetzt sprach, oder, wenn er schwieg?

Und was zählte es überhaupt noch, wenn er ein Feigling war?
Er hatte noch knapp vierundzwanzig Stunden zu leben.

Julian sah auf, die blauen Augen verhangen, und traf ihren Blick, lächelte, wie eine Puppe lächeln musste, und sagte:
„Du hast mir das Leben gerettet, May. Ich wollte dir dafür danken, bevor es zu Ende geht."

Smokehands (Skythief pt. 2)Where stories live. Discover now