36 - Quecksilberkinder

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{Entschuldigt die Unregelmäßigkeiten ... Abitur 2020 ist einfach ein absolutes Fest}

Die Nadel jagte einen unangenehmen Stich durch Achills Oberarm, als er sich das Serum spritzte. Die dunkle Flüssigkeit war kurz unter seiner Haut sichtbar, wie eine Tiefseekrake, die sich langsam mit ihren Schattengespinsten von Armen in seinen Körper hineinzog.
Er legte den Kopf in den Nacken, während der Schmerz verebbte, abflaute, erträglich wurde.
Das erste Mal seit Tagen war er fast alleine.

„Du bist empfindlicher geworden", stellte Astra fest. Sie saß auf einer Chaisselongue mitten im Raum, die blinden Augen auf ihn gerichtet und die dünnen Mädchenhände im Schoß gefaltet. Achill bewegte seine Finger, die kribbelten, während das Serum sich seinen Weg durch die feinen Blutgefäße suchte, um seinen Körper zu beruhigen. Ihn weiterhin am Leben zu erhalten.

„Ich dachte, du musst gegen drei eine Messe halten?", fragte er scheinbar beiläufig, während er sich das Hemd wieder überstreifte und die dünne Goldkette darunter schob, die Walsh ihm gestern umgelegt hatte. Der Tänzer war verschwunden, bevor er aufgewacht war.

Das seltsame Mädchen blieb regungslos.
„Was willst du tun?", fragte sie nur.

Er zog seinen roten Umhang an, schloss die goldene Schnalle und folgte einer der in den Boden eingelassenen Steinspiralen, bis er in ihrem Zentrum stand. Eine seiner vielen Angewohnheiten.

„Er ist in Gefahr", setzte sie noch einmal an, „bis jetzt habt ihr ihn beschützen können, was weniger an den Soldaten deines Vaters, als viel mehr an der Unfähigkeit der Attentäter und der Tatsache, dass Nana auf unserer Seite steht, lag. Achill", sie seufzte, „sobald er die weinenden Steine verlässt, ist er vogelfrei."

„Der Adel will den Prinzen tot sehen, das Volk denkt, er sei unsterblich", murrte Achill, „Hast du von der Sekte gehört, die sie um seine Figur gegründet haben? Lächerlich."

Sie musterte ihn, flocht die Finger ineinander und wartete.

„Ich werde es ihnen sagen", entschied Achill düster, „sie ahnt ohnehin schon etwas", er hob ein altes, in Leder gebundenes Buch von einem Beistelltisch und ließ es im Vorbeigehen in Astras Schoß fallen, „Ich musss es ihnen sagen, wenn nicht noch schlimmere Dinge geschehen sollen."

„Die Wahrheit also?", schmunzelte die Blinde, während ihre Finger über den Ledereinband strichen und die geprägten Buchstaben nachfuhren, „Wie überaus vorbildlich."

„Ich weiß, dass es dir nicht gefällt. Mir gefällt es genauso wenig. Wir haben keine Wahl, wenn wir realistisch sind. Er hat seinen Schatten abgestreift. Niemand kann ihn jetzt noch verstecken."

„Ich werde dich nicht aufhalten, das weißt du. Aber: Julian d'Alessandrini-Casanera entstammt einer Linie von Tyrannen. Er wurde zu einem von ihnen erzogen. Wenn du ihm dieses Wissen in die Hände gibst, Achill, wird er es als Waffe benutzen. Es gibt ihm die Macht, bis in alle Höhen aufzusteigen und nicht nur die Krone zurückzuerobern, die ihm nach Tyrannenrecht zusteht, sondern auch die, die seit Jahrhunderten blutbesudelt in den tropfenden Steinen ruht."

Achill blinzelte.
Die schwere, goldene Krone, die der letzte Kaiser der unteren Stadt getragen hatte ruhte in einer der Schatzkammern im bestbewachtesten Teil dieser Felsenhöhlen. Gleich neben dem konservierten Herz des in der Revolution ermordeten Tyrannen. Ein Relikt aus einer anderen Zeit und eine Mahnung an die Jetzige.

„Der Prinz ist eine Gefahr für alles, wofür wir stehen. Kein Mensch sollte so mächtig sein, dass er alle anderen Menschen unterwerfen könnte. Wenn er will, kann er die Welt zum Erbeben bringen."

„Hat er das nicht schon getan?", erwiderte Achill düster, „Wie würdest du die Teufelsnacht sonst beschreiben?"

Sie legte den Kopf schief, genervt von seiner Entschlossenheit.

„Du denkst nicht weit genug voraus", schalt sie, „jetzt haben wir noch die Oberhand. Du verschenkst unseren Vorteil, wenn du ihm die Wahrheit sagst. Dann haben wir keine Macht mehr über ihn, nicht einmal genug, um die zu retten, die wir lieben."

Achill starrte vor sich hin, die Lippen schmal, den Blick verhangen.

„Wir haben keine Wahl, Astra. Sie sind nicht nur aufgetaucht, sie sind zusammen hier. Ein Glück, dass wir sie weit weg von den Caz Kristallen unter Verschluss haben, sonst läge diese Stadt längst in Schutt und Asche."

Die weiße Frau blitzte vor seinem inneren Auge auf, hager und gespenstisch. Abgekämpft und trotz ihrer hellen Haut, dem elfenbeinweißen Haar und den knochenfarbenen Augen so düster.

„Sie ist sehr einsam", merkte Astra an, „Einsame Menschen können schreckliche Dinge tun."

„Also brauchen wir jemanden, der ihr Vertrauen gewinnt."

„Orpheus hat mit ihr gesprochen."

„Hat er das? Was für ein Zufall", murmelte Achill.

„Sie mag ihn allerdings nicht, wie es scheint", hängte die Flammenpriesterin an.

„Wieso verwundert mich das nicht im Geringsten?", schnaubte Achill und wanderte seine Steinspirale wieder nach außen, „Immerhin haben wir einen Ansatz."

Schweigen breitete sich im Raum aus.

Er fing ihren Blick auf.

„Frag' mich endlich, damit wir das abhaken können."

„Du wirst es ihnen zeigen. Damit sie dir glauben", sie fragte nicht, es war eine Feststellung.

Er nickte langsam und erntete einen emotionslosen, blinden Blick.

„Das ist nicht klug, Achill."

„Wir haben keine Wahl."

Keine andere Wahl, als den beiden mächtigsten Wesen, der Hohen und dem Feuerprinz, das bestgehütete Geheimnis der unteren Stadt und der ganzen Menschheit zu zeigen und zu hoffen, dass sie das davon abhalten würde, blutige Rache zu nehmen.

„Du musst warten, bis er wieder aufwacht", murmelte sie.

„Falls er wieder aufwacht", korrigierte Achill, „Der Alessandrini Erbe gibt sich alle Mühe, uns wegzusterben."

Astras Lippen verzogen sich missmutig.

„Oh, glaub' mir ... er wird wieder aufwachen. Erde und Himmel wachen über den Jungen."

Smokehands (Skythief pt. 2)Where stories live. Discover now