80 - Erschütterung

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Sie flohen durch dunkle Gänge und so enge Schächte, dass Cress glaubte, zu ersticken. Doch Walsh zog sie erbarmungslos hinter sich her. Er ließ sie nicht zurück, als sie lieber einfach irgendwo liegen geblieben und gestorben wäre, anstatt weiter durch die schreckliche Enge der Felsen zu rennen. Ab und zu, wenn sie größere Höhlen durchquerten oder sich Gänge kreuzten, hörten oder sahen sie andere Farblose, die um ihr Leben rannten. Dominique konnte unmöglich alle versteckten Tunnel versperrt haben – dafür kannte sie das Gebiet nicht gut genug. Cress wurde mehr von Walsh und Achill durch die Dunkelheit gezogen, als sie lief. Ihr Kopf sackte immer wieder nach vorne, weil sie für Sekundenbruchteile das Bewusstsein verlor.

„Wir nehmen den westlichsten Ausgang", hörte sie Walsh links von sich. Sie kamen an einer weiteren Weggabelung an und der Valeria mit den Frühlingsaugen blieb so ruckartig stehen, dass Cress beinahe gestürzt wäre. Einen Moment lang herrschte absolute Stille.

„Süßer?", fragte Walsh. Er klang verunsichert.

„Wieso halten wir an?", stöhnte Cress. Als sie die Finger von ihrer Brust löste, stellte sie fest, dass sie durch ihren behelfsmäßigen Verband geblutet hatte. Doch dann spürte sie es ebenfalls.

Achill stand mit dem Rücken zu ihnen. Die Fackel, die sie aus einem der höher gelegenen Tunnel gestohlen hatten, malte dunkle Schatten um seine Gestalt. Doch während um sie her alles still war, spürte Cress ein tiefes Dröhnen zwischen ihren Schläfen, das mit jeder Sekunde anschwoll. Als Achill sich zu ihr umdrehte, war seine Miene wie festgefroren. Cress bildete sich ein, dass silberne Funken in seinem Blick brannten, bevor er blinzelte und sie verschwanden. Das Dröhnen wurde lauter. Die Diebin hätte sich nicht gewundert, wenn die Erde vibriert hätte, wenn die Kieselsteine um ihre Knöchel tanzen würden und die Decke über ihren Köpfen erst erzittern und dann einbrechen würde.

„Spürst du es?", fragte Achill sie.

Cress wischte sich mit blutigen Fingern verschwitzte Haarsträhnen aus dem Gesicht.

„Was genau?", entgegnete sie mit unbestimmter Geste in Richtung ihrer Wunde. Doch dann riss etwas so plötzlich an ihr, dass sie sich in Walshs Hemd krallte und vor Überraschung aufschrie. Doch immer noch waren sie alleine im Gang. Der Tänzer schien völlig immun gegen das, was mit den anderen beiden geschah.

„Was stimmt nicht mit euch?", fauchte Walsh voller Sorge und zerrte sie in einen kleineren Stollen. Achill folgte, warf einen besorgten Blick über die Schulter. Er war ebenfalls zusammengezuckt, zeitgleich mit Cress, doch im Gegensatz zu ihr stand er nun nicht kurz davor, ohnmächtig zu werden.

„Was ist das?", würgte sie hervor.

„Ich bin mir nicht sicher", antwortete Achill. Eine neue Welle aus dröhnendem, stummem Lärm und fernem Licht rollte über Cress hinweg und sie fand sich auf allen Vieren, schreiend. Die beiden Männer sahen auf sie hinunter, Achill ebenfalls mit schmerzverzerrtem Gesicht und Walsh vollkommen geschockt.

„Wird das so weitergehen?", fragte der Tänzer.

„Es wird eher stärker als schwächer", ächzte Achill und stützte sich mit einer behandschuhten Hand am Fels ab.

„Na wunderbar."

Walsh ging vor Cress in die Hocke.

„Kannst du laufen?"

Dieses Mal sah sie silbernes Licht, als die Welle über ihre Gedanken hereinbrach und ihr Körper verkrampfte sich so ruckartig, dass der Tänzer zurückzuckte.
Khalida, flüsterte etwas in ihrem Kopf, Khalida. Sie flog durch einen Himmel voller Sterne und im nächsten Moment erbrach sie sich auf den Boden des Tunnels.

„Das ist dann wohl ein nein."

Walsh rümpfte angeekelt die Nase, packte Cress kompromisslos am Kragen und zog sie wieder in die Höhe. Der Tänzer trug sie förmlich durch die Gänge, während Cress immer und immer wieder unter der Macht erzitterte, die sich in ihre Gedanken krallte.

„Was passiert mit mir?", fragte sie Achill, als sie lange genug wach war, um nach Luft zu schnappen.

Der letzte Valeria drehte sich zu ihr um. Was auch immer ihr weh tat – es berührte auch ihn, doch nicht annähernd so stark. Die Panik in Achills Augen stand Cress in nichts nach, als er sagte:

„Die Geisel. Sie regt sich."

~

Als sie die Wälder erreichten, war Cress dreimal bewusstlos geworden. Sie hatte wirre Dinge gesehen, während sie die Augen geschlossen hatte. Immer und immer wieder war sie in bodenlose Dunkelheit gefallen, hatte den Styx über sich zusammenschlagen gehört und den unendlichen Himmel weit weg erstrahlen gesehen. Sie war wieder sechzehn und tanzte mit Dice, der sich nach wenigen Momenten in Julian verwandelte und dann mit traurigem Gesicht aus ihren Armen verschwand.

Cress lag japsend im Gras, während Achill gegen einen Baumstamm in der Nähe sank und sich nicht mehr bewegte. Walsh hielt ihn, bevor er auf der Erde aufschlagen konnte. Doch es gab keine Worte, die die Schrecken der letzten Stunden beschreiben oder gar lindern konnten. Cress stützte sich auf die Ellenbogen. Alles tat ihr weh, Körper wie Geist. Sie fühlte sich, als hätte sie gerade eine Schlacht überlebt und wäre dann tagelang durch Schlafentzug und Folter zermürbt worden.

Die Unterwelt stand in Flammen. Hades war tot. Julian fort. Über Cress schwankten Buchenblätter sanft im Nachtwind, während sie nach Luft rang und meinte an ihren Tränen zu ersticken. Schuld.
Er war fort. Dominique würde ihn öffentlich exekutieren, wie sie es vor Monaten und Jahren mit Owen getan hatte. Und zu allem Überfluss regte sich unter den beiden Städten nun auch noch das tödlichste Wesen, das die Diebin je gesehen hatte.

„Lasst uns gehen", forderte sie mit rauer Stimme. Der stolze Valeria, der nun nicht viel mehr als ein Häufchen Elend war, sah mit glasigem Blick zu ihr auf.

„Wo willst du hin?", fragte Walsh trocken. Die Diebin hob schwankend einen ihrer Dolche auf und wischte sich Asche von den Wangen. Nun, da keine geistigen Schockwellen mehr durch ihren Verstand jagten, war sie wieder mehr sie selbst, wenn auch vollkommen am Ende. Als sie sich zu den anderen Farblosen umdrehte, sah sie aus, als wäre sie geradewegs aus einem Albtraum marschiert. Blutend, verschwitzt, von Kopf bis Fuß in Erde und Staub gehüllt. Doch das erschreckendste war ihr Blick – er ging den anderen durch Mark und Bein.

„Ich werde die Hohen umbringen", knurrte Cress, als läge das vollkommen auf der Hand, „Beide."

~

Entschuldigt bitte die ewigen Wartezeiten, bei mir passiert gerade sehr viel gleichzeitig <3 Ich hoffe, es geht euch allen gut und ihr seid gesund und zuversichtlich trotz all der uncoolen Sachen gerade :) Ich lade gleich noch den Epilog hoch und die Danksagung sowie weitere Infos kommen die Tage!
Vielen Dank, dass ihr mir und meiner Geschichte so treu seid <3
Ich schicke euch virtuelle Sonnenstrahlen (trotz dieses Endes 😂) und wir lesen uns bald!
Eure Lena

Smokehands (Skythief pt. 2)Where stories live. Discover now