17 - Hinrichtung

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Cress war in ein langes, leichtes Kleid gehüllt, in Handschellen gelegt und bewacht von fünf Valeria Männern in die Loge eskortiert worden. Sie stand neben Walsh, am äußersten Ende des ausladenden Balkons, während um sie herum das Amphitheater bebte.
Es war eine alte Steinkonstruktion, riesig und ehrwürdig, wie das Kolosseum in Rom es einst gewesen sein musste. Zwei Projektionen der im Moment noch leeren Arena waren das einzige, was darauf schließen ließ, dass man sich nicht im Zeitalter der römischen Kaiser, sondern viele Jahre nach einem Atomkrieg befand. Es wirkte noch erschütternder auf sie, als der Thronsaal, als sie das erste Mal im Kern gewesen war.
Denn dieser Ort war nicht erfüllt von perlendem Champagner, falschem Gekicher und Spitzenfächern.
All das schien es hier nie gegeben zu haben.

Die Steinränge waren voller Menschen, die schrien, als würden sie bei lebendigem Leibe verbrannt. Doch niemand von ihnen schrie vor Schmerz. Es war die blanke, ehrliche, schreckliche Raserei des Zorns, die nicht nur einen einzigen Menschen, sondern ein ganzes Volk ergriffen hatte.
Alles, was Cress im Schein der riesigen Glühbirnen, die überall von Ketten mitten in die auf den treppenhaft ansteigenden Rängen hineinhingen, sah, waren unbeschreibliche Mengen von gesichtslosen Körpern. Farblose, die wahrscheinlich noch nie in ihrem Leben die echte Sonne gesehen hatten.
Cress war taub und stumm geworden. Sie hörte ihrem eigenen Herzschlag zu, dem einzigen Geräusch, das die Menge übertönte. Sie spürte die Schweißtropfen ihren Rücken hinab rinnen, die Wärme der riesigen Glühbirne hinter sich, den sanften Luftstrom irgendeiner Anlage, die verhinderte, dass sie hier unten alle erstickten. Und sie spürte Orpheus Blick, als würde er ihre rechte Gesichtshälfte verbrennen. Immer wieder sah er selbstgefällig zu ihr herüber. Genoss die Hilflosigkeit, die sie hinter ihrer Ruhe verbarg. Die Wut, die sie dazu brachte, die Fingernägel so fest in den Stein der Brüstung zu krallen, dass ihre Fingergelenke schmerzten.

Sie würde nicht weinen.
Diesen Triumph würde sie ihnen nicht gönnen. Wenn Julians Blut auf dem sandigen Niemandsland dort unten vergossen wurde, würde sie nicht weinen, sondern still und kontrolliert bleiben.
Und dann würde sie gehen. Irgendwann, wenn diese Menschen längst vergessen hatten, dass sie je hier gewesen war, würde sie zurückkommen und diesen Boden auch mit dem Blut der Valeria tränken.

Orpheus meinte, sie zu kennen. Er meinte, abschätzen zu können, was sie fertigbrachte. Dabei hatte er schon lange keine Ahnung mehr.

Als die Glühbirnen wie von einer gewaltigen Hand in Richtung Decke gezogen wurden, das goldene, aber kalte Licht über die Menge tanzte und die Spannung weiter stieg, begann sie schwerer zu atmen.
Leise Zweifel daran, ob sie es schaffen würde, ihre Gefühle in sich einzusperren, machten sich breit. Düsternis senkte sich über das Amphitheater, während um den kreisrunden Boden der Arena herum mannshohe Fackeln erglühten. Cress Kehle war wie zugeschnürt, sie selbst festgefroren wie eine der Eisstatuen, die Julians Hochzeit dekoriert hatten.

Niemand wagte es, sie anzusprechen.
Der einzige Mensch in der Stadt, der im Licht der Sonne geboren worden war und nicht unter einem Himmel aus Fels, war dabei das letzte, verzweifelte bisschen Licht zu verlieren, das Julian in den letzten Wochen in ihr großgezogen hatte.

„Niemand zwingt Euch, hier zu sein", sagte jemand hinter ihr. Hades war trotz ihrer Handschellen vorsichtig genug, um in sicherer Entfernung zu bleiben.
Der Herr der Unterwelt lockte zuerst nicht einmal ein Blinzeln aus der Diebin hervor, während sein Volk die blau beschmierten Arme in Richtung Himmel reckte.
Dann, langsam, als wäre sie eine ineffiziente Maschine, wandte Cress den Kopf. Nicht ganz, nur so weit, dass sie ihn gerade so ansehen konnte. Momente, bevor sie die Tore öffneten, lösten sich ihre Lippen voneinander.
„Lasst uns doch herausfinden, Hades, wie sterblich ihr wirklich seid."

Die bittere, brennenden Kälte in ihrem Blick wurde begleitet von einem Aufschrei aus tausenden von Kehlen, als der Gladiator, der Julian hinrichten sollte, die Arena betrat. Einen Moment länger hielt Cress den Blick des Valeria Regenten fest, bevor sie sich abwandte.
Und wie vom Blitzstrahl getroffen innehielt.

Denn dort, bejubelt von Hades Untergebenen, im Schein der viel zu hellen Fackeln, stapfte ein Cyborg in die Mitte der Arena. Ihr Gesicht wurde mannshoch auf die beiden Leinwände gebannt.
Aus Dunkelheit gegossen und in Tränen gehärtet. Sie hatte ein Gesicht, wie aus Ebenholz geschnitzt, dunkle Haut und scharfe Kanten. Helle Augen, die sich direkt in Cress Augen zu brennen schienen, während ihr Haar, das in strengen Wikingerzöpfen zurückgebunden worden war, hinter ihr her schnellte, wie das Leder einer Peitsche.
Man hätte sie für eine Kriegerin aus alter Zeit halten können, jemanden, über den man Lieder und Gedichte schrieb, die Jahrhunderte fortlebten, wenn man nur ihr Gesicht gesehen hätte.
Aber die strahlenden, mörderisch spitz geschliffenen, metallenen Flügel auf ihrem Rücken machten sie zu einer Gestalt aus den grausamen Originalfassungen der Kindermärchen, die man allen erzählt hatte. Sie bewegte sich wie eine Naturgewalt, unaufhaltsam und endgültig. Sie war eine Naturgewalt.

Ihr eigener Herzschlag dröhnte in ihren Ohren.

Cress hatte nur ein Wesen getroffen, dass dieser Gladiatorin das Wasser reichen konnte. Jemanden, der jetzt kalt auf einem Hochhaus lag, weil er ihr das Leben gerettet hatte.
Einen Freund. Die Gladiatorin, die Julian exekutieren würde, sah aus wie Mattia.

Sie bewegte sich mit derselben tödlichen Gewalt, als sie in der Mitte der Arena ihre Flügel entfaltete, wie der Todesengel, für den sie Mattia immer gehalten hatte. Muskeln spielten mit Metall, Dunkelheit mit dem Licht, das von ihren Flügeln reflektiert wurde. Die Gladiatorin stand ungerührt im Jubelsturm der Menge, ein Schwert, das Cress nicht einmal anheben könnte, in der rechten Hand. Der Cyborg ließ sich vor der Stadt auf ein Knie fallen, senkte den Kopf und verharrte für einige Momente, bevor sie sich wieder erhob.

Die Anwesenheit des Halbmenschen jagte die Aufregung der Menge in ungekannte Höhen.
Ihr Name wurde skandiert, laut aber unklar, sodass Cress einen Moment brauchte, um es zu verstehen. Hyppolita, schrien sie. Hyppolita! Hyppolita!

Die Gladiatorin wandte sich der Loge zu, hob den Kopf und senkte ihn respektvoll vor der Valeria Familie, die zwischen ihren rot-schwarzen Höllehundbannern auf dem Balkon thronte.

Es war so schrecklich, dass Cress kaum noch Luft bekam. Julian würde sterben. Dieser Cyborg, der hier verehrt wurde, wie ein antiker Kaiser, würde strahlenden Stahl auf Julian niedersausen lassen und sein Leben innerhalb von Sekunden auslöschen.
Es gab keinen Ausweg mehr. Sie würde es nicht einmal zwei Schritte in Richtung Hades schaffen, bevor man sie niederschlagen würde. Vielleicht schlimmeres.

Orpheus hatte sich abgewandt. Er hatte es nicht nötig, sich weiter in ihrem Elend zu sonnen.

Hyppolita wartete, während sich unaufhaltsam die eisernen Tore zur Arena öffneten. Es fühlte sich an, als ob man ihr ein Loch in die Brust riss, als er in die Arena trat. Aufsah. Und sein Grab in Form einer wogenden Menge und metallener Flügel vor sich sah. Cress war der einzige Mensch von ihnen, der am liebsten geweint hätte.

Er sah so klein aus, dort unten auf dem Stein. Verloren, verlassen und verraten. Alles in ihr zog sich zusammen, als man sein immer noch viel zu schönes Gesicht riesig auf die Leinwände bannte. Hagerer, mit tieferen Schatten unter den Augen. Irgendetwas klebte ihm in den Haaren. Die blauen Augen einer Königsdynastie flackerten über die Menge wie benommen. Julian verneigte sich nicht. Er hob nur den Kopf, als würde er nach den Sternen suchen und dabei nur tonnenweise Fels finden. Cress wollte wegsehen, als sie ihre Kampfpositionen einnahmen. Taubheit machte sich in ihr breit, hoffnungslos und endgültig. Es war vorbei.
Dieser Kampf war schon entschieden, bevor er begonnen hatte.

Smokehands (Skythief pt. 2)Where stories live. Discover now