1 - Farblos

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Das Mädchen auf dem Bett stöhnte vor Schmerz auf, als der Namenlose ihre dünnen Handgelenke zusammendrückte. Nach ihren hektischen Atemzügen zu schließen, bekam sie kaum Luft unter seinem Gewicht.
Ihre Arme zitterten, als sie versuchte sich im dämmrigen Licht gegen die Gewalt zu wehren.
Doch das musste sie gar nicht.
Bewegung kam in die Schatten des Zimmers, bis eine blitzende Klinge seinen Adamsapfel liebkoste.

„Weg von ihr", befahl die Frau, die sich wie ein Phantom aus den Schatten gelöst hatte. Schon fast spielerisch hob sie die Klinge, damit er sie ansehen musste.

„Ich habe für sie bezahlt", beschwerte sich der Farblose und erntete einen hauchfeinen, blutroten Schnitt an der Kehle. Sein Gegenüber war nicht in der Laune, sich lange mit ihm zu unterhalten.

„Wir bedienen keine Ratten", höhnte sie nur.
Wütend wollte er zu ihr herumfahren, doch das Phantom wich mühelos aus und brauchte nur einen gezielten Tritt, um ihn vom Bett zu befördern und auf den Boden knallen zu lassen wie eine leblose Puppe. Er hatte die zwar an der Wange gekratzt, doch mehr von ihr hatte er nicht erwischt.
Stöhnend wollte er sich aufrichten, doch sie stellte einen Fuß auf seine Brust, lehnte sich mit ihrem ganzen Gewicht darauf und beugte sich hinunter.

„Wenn du dich hier noch einmal blicken lässt, dann bin ich nicht mehr nett."

Sie trat noch einmal zu, bevor sie ihn auf die Beine kommen ließ.
Es war fraglich, ob er die nächsten Tage den Wunsch verspüren würde, wieder ein Bordell zu frequentieren.
Einen Moment lang dachte sie, er würde so dumm sein, wirklich auf sie loszugehen, aber angesichts der Dolche in ihren Händen und der Tatsache, dass er nackt war, griff er nur übel fluchend nach seiner Kleidung und rauschte aus dem Zimmer.
Der Schatten wandte sich der Frau mit den goldenen Haaren zu, die an den blauen Flecken an ihren Handgelenken herumdrückte.
Sie hatte sich notdürftig mit einem Bettlaken bedeckt.

„Alles in Ordnung?", fragte die Frau mit der Klinge und nahm die Maske ab, die sie getragen hatte. Schulterlanges, wildes Haar und dunkle Haut kamen zum Vorschein. Sie ließ die Dolche zurück in ihre Schuhe schnellen.
Das Mädchen auf dem Bett sah auf, tiefbraune Augen, die immer noch angstgeweitet waren. Sie ließ sich zurück in die Kissen fallen, sodass das Laken verrutschte und noch mehr weiche Haut sichtbar wurde. Sie strich sich das goldene Haar aus der Stirn.

„Sterne, was ist das heute für eine Nacht?! Wieso sind alle so aggressiv?", fragte sie.

Der Schatten seufzte nur.
Heute Nacht war sie schon vielen der Mädchen in diesem Bordell zu Hilfe gekommen.
Es lag irgendetwas in der Luft.

„Katena, du solltest für heute Feierabend machen", stellte der Schatten fest, „Tu' mir den Gefallen. Es ist keine gute Nacht."

Katena drehte sich zur Seite, eine Hand in den dicken, blonden Locken und nickte.

„Ist gut", ihr Blick huschte zur Tür hin, als schwere Schritte den Gang hinunterkamen.

Die Männer des Pikbuben hätten sicher nichts dagegen gehabt, einen Blick auf die begehrteste Frau des farblosen Bezirks zu werfen, vor allem, wenn diese halbnackt auf einem Bett lag.
Dass sie es nicht taten, sondern kommentarlos den Gang hinunterjagten, rief ein misstrauisches Stirnrunzeln auf das Gesicht der zweiten Frau.

Doch da waren noch leichtere Schritte zu hören. Die Patronin des Bordells, die von allen nur die Zuckerfrau genannt wurde, streckte den Kopf durch die Zimmertür. Sie hatte den Mund schon geöffnet, um Katena für den unzufriedenen Kunden verantwortlich zu machen, bevor sie die Silhouette bemerkte, die beinahe mit der Finsternis verschmolz.

„Schattenvogel", knurrte sie dann.
Die Angesprochene lehnte neben dem verhängten Fenster. Sie legte den Kopf schief, ein Bein an der Wand abgestützt und die Arme vor der Brust verschränkt.

„Aye?", war alles, was sie sagte.
Die Zuckerfrau zündete letztendlich nur ein Räucherstäbchen an, bevor sie mit finsterer Miene wieder das Weite suchte.
Katena stand auf und schlüpfte in einen Morgenmantel. Sie bekam schon jetzt einen großen blauen Fleck am Hals.

Auf dem Hof wurden Stimmen laut, sodass Cress Cye den Vorhang zurückzog. Was sie im dämmrigen Licht auf dem Vorplatz sah, gefiel ihr ganz und gar nicht.
Auf dem Gang jagten zwei weitere Männer des Pikbuben vorbei. Sie hatten sich jeweils einen schwarzen Mundschutz übergestreift, was hieß, dass sie nach draußen gehen würden.

Im Farblosen Bezirk war es im Gegensatz zu den zivilisierten Bezirken der Stadt nicht ungefährlich, die ungefilterte Luft zu atmen.
Er war die Müllhalde der Millionenstadt, die sich innerhalb der hohen Mauern befand. Man wurde hier alles los, was dort keinen Platz fand.
Plastikmüll. Chemikalien. Menschen.

Katena und Cress wechselten einen Blick. Sie wussten beide, was es bedeutete, wenn von einer Sekunde auf die andere so ein Aufruhr herrschte.
Es hieß, dass sie Kinder brachten.
Kinder, die ein Verbrechen begangen hatten, das so schlimm war, dass der König ihnen das verheerendste Urteil unter der Sonne aussprach. Er nahm ihnen ihre Farben und machte sie zu Geistern, Farblosen wie den beiden jungen Frauen.

„Danke, Cress", sagte Katena müde, „Ich höre für die Nacht auf."
Der Schattenvogel nickte, konnte aber nicht verhindern, dass ihre Augen wieder zur Tür huschten. Hoffentlich würde nicht das Bordell die Neuen bekommen.

Die Blonde winkte ihre Freundin hinaus.

„Wehe, sie kommen mit den Kleinen zurück!"

Cress Cye nickte.
Sie machte sich nicht die Mühe, lautlos durch die Tapetentür zu verschwinden, durch die sie hereingekommen war.
Menschen sprangen ihr aus dem Weg, als sie wie ein düsterer Albtraum durch die schmalen Gänge und hinaus in den Abend rannte.
Sie zog sich ihren eigenen Mundschutz über und verschwand in den Schatten zwischen den leeren, halbverfallenen Hochhäusern der letzten großen Metropole der Erde.

SkythiefWo Geschichten leben. Entdecke jetzt