9 - Kreuzkarten

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Regen prasselte auf das zerstörte Lokal nieder. Die Menschen verkrochen sich unter der Galerie, unter den kläglichen Überresten des gläsernen Daches und an den verstreuten trockenen Flecken, wo das Wasser sie nicht verbrennen konnte. Sie alle starrten den Schatten des Kreuzbuben an, der mittig im Raum stand und weder eine Atemmaske, noch irgendeinen Schutz gegen den Regen trug, seit der Windstoß der riesigen Flügel ihr die Kapuze der Jacke vom Kopf gerissen hatte. Das Wasser lief Cress Wangen hinunter. Sie erwartete, dass auf ihrer Haut die Blasen des Regenbrands erblühten, die so viele Farblose brandmarkten. Doch der Schmerz blieb aus. Weder verätzte das Wasser sie, noch warf ihre Haut Blasen, wo die Tropfen diese berührten. Stattdessen war die Nässe, die ihr über Gesicht und Hände lief, kühl, wie die Hand eines Toten. Cress schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Ließ das Wasser über ihre Augenlider rinnen, während ihr Haar schwer wurde. Es biss sie nicht, tat ihr nicht weh. Oder vielleicht spürte sie den Schmerz nur nicht, weil ihr Blut immer noch gesättigt mit Adrenalin durch ihren Körper schoss. Durch nasse Wimpern sah sie zum grauen Himmel auf, in den der geflügelte Cyborg verschwunden war.

„Schattenvogel!", brüllte jemand, den Cress entfernt als die Heilerin der Clubs erkannte, „Schau' zu, dass du unter Dach kommst!" Der Bann war gebrochen, sobald Cress die Worte vernahm. Sie hob ihre Kapuze über das nasse Haar und begab sich über klirrende Scherben ins Trockene.

Cress half dabei, die Verletzten wegzutragen, holte der Heilerin Wasser und saubere Verbände, hielt schreiende Männer fest, als sie keine Anästhetika mehr hatten. Irgendwann lehnte sie draußen vor dem Lokal im Regen, wo alle anderen, die ebenfalls mit einem blaue Auge davongekommen waren, Kautabak herumreichten und über das Wesen mit den Flügeln flüsterten. Cress blieb abseits der Gruppe, um ihre Gedanken zu sortieren, die vor ungeklärter Fragen nur so wimmelten. Wieso hatte der Cyborg sie am Leben gelassen? Wieso hatte er so gar nicht ausgesehen, wie die anderen seelenlosen Wesen? Bildete sie sich ein, dass er ihr Tattoo angestarrt hatte? Cress entblößte ihr rechtes Handgelenk und sah auf die kunstvoll geschwungenen Umrisse des kleinen blauen Vogels mit dem nach links geneigten Kopf hinunter. Er war nicht ihr einziges Tattoo. Doch im Gegensatz zu dem Kartenkreuz, dem Karo, dem Herz und dem Pik, die sie alle trug, erinnerte sie sich nicht daran, wie ihr dieses Tattoo gestochen worden war. So viel sie wusste, hatte sie es sich nie stechen lassen. Natürlich konnte es sein, dass es in einer ihrer schlechten Nächte entstanden war und sie sich deshalb nicht daran erinnerte. Ihr Kopf drehte sich. Laut Mike kam das von dem immer noch leicht fluoreszierenden Engelsblut.

Irgendwann kam Chiby angerannt, ausgelaugt wie alle anderen, aber aus unerfindlichen Gründen grinsend.

„Sommernachtswende letztes Jahr", sagte er nur, „Klasse Idee." Cress seufzte und lehnte den Tabak ab, den er ihr anbot. Die Idee mit dem Kronleuchter war nicht von ihr gewesen, sie war nur diejenige, die sich aus vier Metern Höhe herabgestürzt hatte, weil der Anführer der Clubs herausgefunden hatte, wer sie vor ihrer Passage gewesen war. Bevor sie farblos wurde. Natürlich wollte er dann ein Kunststück sehen, hatte sie vorgeführt, wie einen teuren Hund. Cress starrte hinaus in den Regen. Nun blitzten neben den Glaschscherben auch regungslose Körper aus Metall in den Pfützen. Sie würden sich später darum kümmern.

„Bist du momentan frei?", fragte sie ihn dann. Die Zähne des pickligen Jungen hatten sich inzwischen rötlich verfärbt. Er schob den Tabak in seinem Mund herum, als würde er angestrengt nachdenken.

„Frei für was?"

„Setzt er dich momentan irgendwo ein, oder hast du nichts zu tun, außer mir am Arsch zu kleben?", fuhr sie auf.

„Bin frei", nuschelte er durch seinen Tabak, plötzlich kleinlaut. „Hast du einen Auftrag reinbekommen?"

Cress antwortete nicht, sondern ruckte mit dem Kopf in Richtung Platz.

SkythiefWhere stories live. Discover now