68 - Totenwache

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Gegen Morgen wurde der Wind stärker, wirbelte Blätter von den Bäumen und May die Haare ins Gesicht.

Nachdem ihre Mutter sie gezwungen hatte sich hinzulegen, saß sie auf ihrem Bett, trug trockene Kleider und hielt ein Buch in der Hand.

Allerdings starrte sie im Moment nur auf den Einband. Und alles, was sie denken konnte war, dass Ascob mit ihr hier sein sollte.

Er hätte sie nicht allein lassen dürfen in diesem Chaos. Man hatte ihr ihren Bruder weggenommen und jetzt hatte man ihr Rya weggenommen.

Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Zum ersten Mal jemals war May völlig verloren.

Vielleicht war das der Moment, in dem sie vortreten und allen ihre Gaben präsentieren sollte.

Das würde Miaserus Tochter als Lügnerin hinstellen.

Es würde May nicht zur neuen Hohen machen.

Sie war nicht die Erwählte, deren Name in den letzten Momenten des Lebens der letzten Hohen bekanntgegeben wurde.

Sie war eine Anomalie, unerwünscht und vor allem gefährlich.

Die Kräfte der Hohen waren Einzigartig, ein Beweis, dass sie von den Sternen eingesetzt worden war. Wenn aber jemand mit den gleichen Gaben auftauchte ... May erschauerte, stand auf und schloss das Fenster.

Sie starrte hinaus in den Park, während das Mondlicht sie mit Silber übergoss.

„Du bist eine Beleidigung für mich. Eine Beleidigung an den Orden", hatte Rya Hora nach einer besonders harten Trainingsstunde gesagt.

Und sie hatte Recht.

May stützte die Ellenbogen auf das Fensterbrett, fuhr sich durch die Haare und blickte hinüber zu den Wäldern, die sich bis an die Abbruchkante des Kernbezirks zu den Mienen des Ordens erstreckten.

Ihre Mutter, die darauf bestanden hatte, bei ihr zu bleiben, drehte sich auf die andere Seite. Aber Cesia hatte nur ein schlechtes Gewissen. Vielleicht realisierte sie jetzt endlich, wie sehr ihre Tochter sie schon immer gebraucht hatte. Aber dafür war es nun zu spät. Es gab nur zwei Menschen, die May in so einem Moment Trost spenden könnten. Einer von ihnen war tot. Der andere hatte sie verraten.

So würde sie die Nacht nicht aushalten.

Sie musste hier raus.

Und sie wusste auch, wohin sie gehen würde.

Sie schlüpfte in ihre Stiefel, warf sich eine Jacke gegen den eiskalten Wind über und huschte hinaus. Irgendetwas war anders als sonst, kam es ihr in den Sinn, anders und beunruhigend.

Aber erst nach drei Schritten in den Gang hinaus, kam ihr in den Sinn, was es war:

Der Korridor war leer.

Keine einzige hohe Dame wandelte in ihrer Traumwelt versunken hier herum.

May ging schneller, zog unbewusst den Kopf ein. es fühlte sich an, als ob sie alleine mit dem uralten Gebäude war, alleine mit den violetten Steinen um sie herum, deren Kraft bei jedem Schritt in sie hinein schoss wie Strom. Sie schlafwandelte ebenfalls, seit die Gabe aus ihr herausgebrochen war. May musste sich einsperren, damit sie nicht durch den Turm geisterte.

Es hätte Fragen gegeben, wenn sie plötzlich von den Caz Kristallen beeinflusst würde, ohne dass sich ihre Familiengabe verstärkte.

Alles in ihr zog sich zusammen, als sie ihre Hand an den violett glimmenden Steinen der Wand entlang gleiten ließ. Das Einzige, was sich an diesem Ort richtig anfühlte, waren die Wahrheitssteine überall um sie herum.

SkythiefWhere stories live. Discover now