58 - Süßigkeiten und Ponys

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Seit Cress klein war, hatte sie von dieser Oper geträumt, bereits bevor sie wusste, was genau sie war. Sie hatte nie auch nur ein einziges Bild davon gesehen, oder ein einziges Lied gehört, bevor sie das Haus der Künste betreten hatte. Doch sie hatte oft davon geträumt, nur wegen der Erzählungen ihres Vaters und der Alten aus ihrem damaligen Stadtteil. Als Corinnes Brief angekommen war, der Cress einen Platz in ihrem Haus zusicherte, waren ihre Eltern beide in Tränen ausgebrochen vor Freude. Nur die begabtesten jungen Artisten wurden überhaupt erst in Betracht gezogen, von den Schaumeistern ausgebildet zu werden. Sie hatte davon geträumt, als Laureline selbst die Arie zu singen, die wohl der bekannteste Teil der Oper war. Dann war sie farblos geworden und all diese Träumereien hatten sich in Luft aufgelöst. Dass sie nun tatsächlich eine Chance bekam, die Oper mit eigenen Augen zu sehen, ganz aus der Nähe, war schier unglaublich.

Cress stand auf den Zehenspitzen, klammerte ihre linke Hand um eines der Regalbretter, während sie mit der anderen nach einem der Romane tastete.
Nicht auf die Bücherregale klettern.
Man nannte sie die Himmelsdiebin. Und dieses Bücherregal war kaum zwei Meter hoch.
Grinsend und mit einem Stapel Bücher im Arm landete sie wieder auf dem Boden.

Zu dieser Aufführung der Oper von Laureline zu gehen war gefährlich, dumm und genau das, was sie im Moment nicht tun sollte. Doch sie konnte der Versuchung nicht widerstehen. Schon jetzt tanzte eine Märchenwelt vor ihren Augen, die sie nicht wegblinzeln wollte.
Es war ihr in diesem Moment egal, dass Julian der Kronprinz war. Dass er Miaserus Sohn war. Er hatte eigewilligt, sie hineinzuschmuggeln, die mitzunehmen, als wäre sie eine Dame aus dem Hochadel und keine Farblose. Vielleicht hatte er wirklich so etwas wie ein Gewissen, das er mit dieser Einladung zumindest ein bisschen beruhigen wollte. Es war ihr egal. Sie, eine farblose Diebin, würde die Oper von Laureline sehen und hören. Eine kleine Rebellion, die sie beflügelte.

Und in diesem Moment fühlte es sich an, als wäre ihr ganzes Leben etwas schöner und weniger kaputt.

~

Es war schon spät, als er wiederkam. Sie hörte ihn im Klavierzimmer, während sie im Schlafzimmer auf einer Couch lag und las.
Er streckte den Kopf zur Tür herein.
„Bist du auf mein Bücherregal geklettert?"
Die Bücherstapel neben der Couch sprach für sich.
„Ich? Was? Nein!", antwortete sie mit einem Räuspern, das sie sofort entlarvte.

Julian nickte ergeben.
„Hast du ‚Stolz und Vorurteil' geklaut?"
Sie warf dem Jane Austen Buch, das auf seinem Schreibtisch herumgelegen war und jetzt halb unter ihrer Decke verschwand, einen Blick zu.
„Definitiv nicht."
„Wehe, du lässt mein Lesezeichen herausfallen", drohte er halb ernst.
„Keine Sorge, ich habe dir ein Eselsohr rein gemacht."
Das war ein Fehler gewesen.
Mit finsterem Gesichtsausdruck schnitt Julian durch den Raum, zog ihr trotz ihres Protests das Buch unter der Decke hervor und verschwand damit.
„Eselsohren?", hörte sie ihn so empört flüstern, dass sie fast laut gelacht hätte.

~

Am übernächsten Tag gegen Nachmittag, schlug sie gerade auf die Trainingspuppe ein, als die Tür aufflog und ein strahlender Julian die Bühne stürmte.
„Guten Nachmittag, Cress Cye."
Verständnislos hielt sie inne.
„Ich habe etwas für dich."
Schwarze Seide rollte von seinem Arm in Richtung Boden. Sie musterte das Kleid, dann den Kronprinzen und wieder das Kleid.

„Willst du mich verarschen?"
„Keineswegs."

Cress trat vor und nahm den teuren, schimmernden Stoff zwischen die Finger. Sie hätte nicht gedacht, dass sie nach den letzten Tagen, die sie hier im Palast verbracht hatte, noch irgendetwas in Ehrfurcht versetzen könnte, nur weil es teuer war. Doch genau das passierte gerade. Denn sie würde dieses Kleid tragen. Keine Adlige, sondern eine Farblose. Eine Vogelfreie.

SkythiefWhere stories live. Discover now