65 - Läufer und Springer

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Mays Kehle brannte. Kalter Schweiß rann ihr den Rücken hinab, als sie über die Wiese preschte. Die Hufen ihres Pferds rissen den sorgsam gepflegten Boden so gnadenlos auf, dass man sich fragen musste, warum die Erde nicht anfing zu bluten. Es wäre ihr recht gewesen, sie hätte es genossen, wenn die Natur genauso geblutet hätte, wie sie selbst. Alles sollte welken und vergehen, leiden wie sie es tat. Sie wollte schreien und weinen und lachen, weil sie von einem Moment auf den anderen so unglaublich hilflos geworden war. Ascob war tot. Keuchend sog sie den Sturmwind ein, der ihr die Haare um das totenblasse Gesicht tanzen ließ, als das Brennen in ihrer Kehle übermächtig wurde. Sie hielt an, mitten im Wald, stieg mit zitternden Beinen ab und brach zusammen. Das Pferd schnupperte über die Steine und entfernte sich ein paar Schritte, vollkommen uninteressiert, während May den Kopf in den Händen vergrub. Das dumme Tier hätte in den Flammen sterben sollen, nicht ihr Bruder. Nicht ihr Bruder. Sie hatte noch nie in ihrem Leben so geweint. Es ging nicht um irgendeine Prüfung, die besser sein könnte, eine gezischte Beleidigung ihrer Neider oder einen unwichtigen Streit mit ihrer Mutter. Ascob war tot. Ihr Bruder war tot. Und alles, was sie fühlte, war Schmerz, der sich in ihre Brust bohrte und ihre Eingeweide mit unaushaltsamer Endgültigkeit zu umklammern schien. Sie hatte es gewusst. Von dem Moment an, als er nicht pünktlich zum Essen mit ihrer Mutter erschienen war. Natürlich war er bei den Pferden gewesen. Natürlich hatte er sie gerettet. Dieses sentimentale Küken von Mann. Aber er wäre nie in den Flammen gestorben. Ascob war nicht wie Rick. Er hatte Militärdienst an der Mauer geleistet, er hatte mit den Männern des Königs trainiert und war ein ausgebildeter Soldat. Sie hätte es sehen müssen. Wenn die schwersten Rätsel sich unter ihrem Blick zu wunderschönen Lösungen formten, wieso hatte sie das hier nicht begriffen? Mord. Es war Mord gewesen. Denn da war noch jemand mit ihrem Bruder in den Flammen gewesen, jemand, der kein Wort über den Vorfall verloren hatte. Leise und tödlich wie erstickender Rauch.

Sie hatte den Reiter nicht kommen hören, bis Hufe über den schwarz-weißen Stein donnerten.

Ihre Handflächen klebten an ihren Wangen, als sie sie von ihrem Gesicht löste und langsam den Blick hob.

Julian d'Alessandrini-Casanera ragte über ihr auf wie ein Fleisch gewordener Albtraum. Sein Umhang verschmolz mit dem schwarzen, nass glänzenden Fell seines Pferds, als ob man ihn aus Schatten geschaffen hätte. Regen spritzte, als er abstieg und vor ihr in die Hocke ging.

„Was machst du hier?"

Wie konnte er nur so ruhig sein, während um ihn herum die Welt auseinanderbrach? Sie sagte nichts, während der eiskalte Regen ihren Nacken hinunter rann und sich in ihrer Reitjacke verlor.

„May. Du musst hier weg. Im Königswald bist du nicht sicher."

Sie hatte gar nicht begriffen, dass sie so weit geritten war.

„Bist du mir gefolgt?", krächzte sie und gab sich nicht einmal die Mühe, ihre Tränen wegzuwischen. Nichts konnte ihr in diesem Moment gleichgültiger sein, als das.

Der Kronprinz wandte nicht eine Sekunde den Blick ab.

„Du trauerst und bist ohne irgendjemandem Bescheid zu geben bei strömendem Regen in den Wald geritten, wie eine Wahnsinnige. Selbst die Stallburschen machen sich sorgen um dich."

„Lass mich alleine."

Er bewegte sich nicht.

„Ich bringe mich nicht um, Alessandrini. Falls du das hören wolltest und mich dann in Ruhe lässt."

„Eine kluge Entscheidung."

„Was willst du? Du würdest dich nicht um mich scheren, wenn es nicht irgendeinen Vorteil für dich hätte."

Sie kam auf die Beine und er mit ihr.

„Genug. Ich will das nicht mehr. Ich wurde bedroht, habe Kopf und Kragen für Euch riskiert und das einzige, was ich dafür bekommen habe, ist, dass irgendjemand meinen Bruder umgebracht hat. Wahrscheinlich sogar Euer Vater", sie holte zitternd Luft und hatte das Gefühl, dass sie die Bitterkeit ihrer Worte schmecken konnte, „Das ist vorbei, Julian. Auf Wiedersehen, Eure Hoheit. Ich hoffe, wir sprechen uns nie wieder."

Sie wandte sich ab, um zu ihrer Stute hinüber zu gehen und ihn weit hinter sich zu lassen.

„May. Hör' mich an. Wenn du mir fünf Minuten gibst, dann lasse ich dich in Ruhe. Ich schwöre es."

Es war wirklich mutig, sie in diesem Moment um Gehör zu bitten. Die wütenden Tränen machten ihre Sicht unscharf. Oder war es nur der Regen?

„Zwei Minuten."

Julian näherte sich ihr nicht weiter, sie standen sich jeweils mit den Zügeln ihrer Pferde in den Händen gegenüber. Weiß und schwarz auf dem Platz mit dem Schachbrettmuster.

„Ich verstehe, dass du wütend bist. Auf mich, auf die Welt, auf alles und jeden. Vor allem, weil dein Bruder unter so mysteriösen Umständen gestorben ist. Wir wissen beide, dass da etwas nicht stimmt und auch, dass es viele Menschen gibt, die ein Interesse daran hätten, ihn verschwinden zu sehen. Vielleicht", er hielt einen Moment inne und fasste die Zügel nach, obwohl sein Pferd vollkommen regungslos neben ihm stand, „vielleicht, um dir Schmerzen zuzufügen."

„Weil ich dumm genug war, mich auf diese Aktion einzulassen?"

„Wir wissen nicht, ob es dabei um deine Hilfe bei dem Diebstahl der Achlys Formel geht, May. Das ist nur Spekulation."

„Ich habe in meinem Leben, in meinem ganzen Leben, nichts Unrechtes getan, Alessandrini. Ich habe schon ein schlechtes Gewissen, wenn ich für die Hohe irgendwelche Daten des Königs entschlüsseln muss. Es geht um Achlys. Es geht darum, dass ich dir geholfen habe. Ich bin schuld am Tod meines Bruders."

Ihre Stimme versagte. Da war kein Mitleid in Julians Augen, nur kühle Ruhe. Berechnung? Ihr war alles lieber als Mitleid.

„Das stimmt nicht, May. Wir wissen beide, wessen Schuld es ist, wenn du verraten wurdest."

Rick.
Der unausgesprochene Name brannte sich in ihre Brust wie heißes Eisen. Der Verräter hatte ein Loch in ihrem Leben hinterlassen, das sie verzweifelt zu füllen versucht hatte. Seit Ascob tot war, hatte sie es aufgegeben und einfach akzeptiert, dass sie nie wieder ganz werden würde.

„Deine Zeit ist um", sie stieg auf, „ich will dich nie wiedersehen."

Mit zwei Schritten war er bei ihr und Griff in die Zügel.

„Ich kann dir helfen, May. Du hast mir geholfen und jetzt revanchiere ich mich dafür. Arbeite weiter mit mir zusammen. Lass uns diese Stadt besser machen. Und dann schwöre ich dir bei den Sternen und der Dunkelheit dazwischen, dass ich den Mörder deines Bruders finde."

SkythiefWo Geschichten leben. Entdecke jetzt