52 - Wahnsinnig

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So schnell sie konnte verstaute die Diebin den Schlüssel wieder. Doch die Gitterplatte, die die Kassette verborgen hatte, verklemmte sich.

Angestrengt versuchte sie es noch einmal. Vergebens.

„In zwei Minuten sind sie am Labor."

Mays Stimme klang gepresst.

„Ihr hattet einen Job!", giftete Cress.

Sie zog noch einmal mit aller Kraft an dem Metallteil. Mit wachsender Panik trat sie darauf ein. Endlich rutschte es an seinen Platz zurück.

Sie hob die Glasdisc auf und rannte um ihr Leben.

Zwei Minuten.

Cress schaffte es durch die Labore und zurück auf den unscheinbaren Flur, während auf der anderen Seite des langen Gangs mit dem Gitterboden eine Tür aufschwang.

Sie hatten sie nicht gesehen, doch da waren Stimmen, die von den Wänden widerhallten.

Eine ganze Truppe von Menschen war in ihre Richtung unterwegs.

„Links. Es gibt nur einen Weg zurück", dirigierte May.

Doch auch die Stimmen kamen von links.

Cress drehte sich und wollte los sprinten, sich aus der Gefahrenzone bringen, bevor es zu spät war, als jemand das Licht im Gang anknipste.

Sie war bei der Frau, bevor diese zu schreien anfangen konnte und schlug sie k.o.

Doch es war sowieso schon zu spät.

Von rechts näherten sich ebenfalls Schritte.

Cress saß in der Falle.

Sie floh ein Stück den Gang hinunter, duckte sich in einen Türrahmen, während die Menge um die Ecke bog und die Frau fand.

„Okay. Jetzt haben wir ein Problem", flüsterte sie drei Menschen zu, die im Moment entspannt in den Katakomben herumsaßen und wahrscheinlich gleich zuhören durften wie man sie abführte.

Cress rüttelte an der Türklinke, die sich um keinen Millimeter bewegte.

Ihr brach der kalte Schweiß aus.

„Ich komme hier nicht weg. Links und rechts sind Leute. Und ..."

Dann geschahen mehrere Dinge gleichzeitig, zu schnell, um sie in dem Moment alle getrennt wahrzunehmen.

Ein Schrei gellte durch den Vorbau der Labore, eine Tür flog auf und sie starrte direkt in das Gesicht eines Wachpostens.

Cresss schnappte entsetzt nach Luft, hatte nicht einmal Zeit, sich zur Seite zu drehen, bevor sie in den Lauf einer Plasmawaffe sah. Doch die Plasmaexperten reagierten schnell genug, um ihr das Leben zu retten. Die automatische Tür hinter ihr, die noch Sekunden zuvor fest versiegelt gewesen war, schwang auf. Cress stolperte durch drei Plasmaschleusen, die Rick einen Sekundenbruchteil bevor sie gegrillt wurde, ausschaltete.

Als sie wieder aufsprang, befand sie sich in einer riesigen Lagerhalle.

Künstliches Licht, Beton und jede Menge weiße Kanister standen auf dem nackten Betonboden. Fast könnte man meinen, sich wieder in den Außenbezirken zu befinden.

Riesige, mit schwarz gelben Warnstreifen versehene Metalltore waren in die Wand gegenüber eingelassen worden. Tore, die wie Cress dank Mays Ausführungen wusste, ins Nichts führten.

De Diebin hatte kein gutes Gefühl bei der Sache.

„Hör zu ...", schaltete sich eine angespannte May über die Kopfhörer ein. „Durch die Sicherungsschleusen kommen sie erst einmal nicht mehr durch. Aber du auch nicht."

„Kein zweiter Ausgang?", hakte Cress atemlos nach.

„Nichts", ein Fluch des Roten echote in ihren Ohren wieder.

„Kommen sie durch das Plasma durch?", fragte Cress gehetzt. Sie eilte zwischen den Tanks und Kanistern hindurch, nicht mehr auf der Suche nach einem Ausweg, sondern nach einem Versteck.

„Nicht ohne ... und da ist ja schon einer", Rick räusperte sich, „Sie haben einen Plasmaentwickler. Sie kommen durch."

Cress presste die Zähne aufeinander, versuchte ruhig zu atmen und die aufsteigende Panik irgendwie in den Griff zu bekommen.

Sie war eingesperrt.

Die Diebin wirbelte einmal um die eigene Achse, nervös wie ein Tier, das man in die Enge getrieben hatte.

„Holt sie da raus", befahl Julian.

„Wir arbeiten daran", zischte die Schülerin der Hohen zurück. Cress blendete die streitenden Stimmen aus, schloss die Augen, bis das einzige Geräusch das Pochen des Bluts in ihren Ohren war.

Sie ging alles durch, suchte nach dem Detail, das ihr Leben retten würde.

Doch sie befand sich hoch über der Stadt in einem Geheimlabor, in dem eine Massenvernichtungswaffe entwickelt wurde, zu der sie den Schlüssel immer noch in der Hand hielt. Ihr Griff um dieses fragile, kleine Ding war so fest, dass sie Angst hatte, es zu zerbrechen.

Es gab nichts, das ihr helfen konnte.

Wenn sie sie erwischen würden, wenn eine der Wachen sie zu fassen bekam ... dann war es endgültig vorbei.

Sie hatten die Diebin gefangen, den Vogel in einen Käfig gejagt und selbigen fest verschlossen. Cress Rücken pochte von dem harten Fall auf den Beton.

Ihre Knie waren instabil wie ein Kartenhaus.

Der König würde sie nicht bekommen. Denn noch hatte er ihr die Flügel noch nicht gestutzt.

Was sie vorhatte war wohl das wahnsinnigste, was sie je getan hatte.

Lebensmüde und einfach dumm.

„Macht die Tore auf", flüsterte sie.

Eine kurze Stille folgte.

„Du bist doch komplett verrückt", murmelte May.

„Ich weiß."

„Das kannst du nicht überleben. Rein statistisch gesehen ..."

Ricks Stimme überschlug sich vor Entsetzen.

„Ich weiß", war alles, das Cress sagte.

Rascheln auf der anderen Seite.

„Schattenvogel", sagte Julian langsam.

Sie sprang auf und ab, lockerte ihre Gelenke und Muskeln, während die schweren Tore begleitet vom orangen Aufblinken mehrerer Warnleuchten auseinander glitten. Als die kühle Nachtluft in die Lagerhalle hoch über dem Erdboden strömte, war sie wie eine kühle Umarmung für die Diebin.

„Für einen Vogel hast du sehr viel Angst vor dem Fallen", meinte Julian.

Da war kein Spott in seiner Stimme, keine Halbwahrheit, sondern sogar etwas wie Respekt. Doch sie war in diesem Moment viel zu beschäftigt mit der Frage, ob es überhaupt eine Chance gab das hier zu überleben.

„Sonst wäre ich längst tot", keuchte sie, fast verrückt vor Angst. „Sonst noch irgendwelche hilfreichen Bemerkungen?"

Einen Moment lang drückte Stille gegen ihre Trommelfelle.

„Flieg", flüsterte Julian, so leise, dass sie ihn fast nicht verstanden hätte.

Die Tore waren noch nicht ganz offen, als ein lauter Fluch von May durch Cress Kopfhörer hallte und die Plasmaschleusen ihre Verfolger in die Halle strömen ließen.

Während sie Kommandos brüllten und anlegten jagte sie durch die Halle.

Ihre Bewegungen in perfekter Harmonie mit ihrem Atem, ihrer Konzentration. Einatmen.

Ausatmen.

Und als sie schossen und sich die strahlenden Plasmakugeln in die Dunkelheit über der Stadt bohrten, sprang Cress.

SkythiefWhere stories live. Discover now