38 - Nacht und Tag

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Die blaue Farbe auf ihrem Körper verwandelte Cress in ein Wesen, das einem Traum entsprungen schien. Weiße Muster zogen sich über ihren Bauch, ihre Arme hinauf, über ihre Beine. Blattgold schimmerte in ihren kunstvoll hochgesteckten Haaren, um ihre Augen, auf ihren Lippen. Als ob sie einmal in den Nachthimmel eingetaucht wäre und hinter dem kalten Silber der Sterne irgendwo das Gold gefunden hätte, mit dem jede einzelne dieser kleinen Sonnen brannte.

Langsam drehte sie sich nach rechts und beobachtete, wie die vielen, leichten Stoffe in der Bewegung mitschwangen. Gold, dunkelblau und schwarz wie gefärbter Rauch.

Sie war ein Fetzen, den man aus dem Firmament gerissen hatte und der mit dem Wind davonwehen wollte, aber stattdessen hier am Boden hängen geblieben war und sich nach dem Himmel sehnte.

Um sie herum in der Halle hatten sich in einer Traube aus Dunkelblau, Schwarz und Gold die anderen Tänzer versammelt. Die Farben machten sie alle zu märchenhaften Gestalten, versteckten die eigentlichen Haar- und Hautfarben. Damit niemand ihre ungeschminkte Haut oder ihre ungefärbten Haare sah, hatten sie deshalb Cress zuerst angemalt.

Als Farblose sah man so aus, wie die Natur es ursprünglich für einen vorherbestimmt hatte. So wie jeder in der Stadt aussehen würde, wenn der Kernbezirk nicht die Farbmanipulation eingeführt hätte. Farblose wirkten auf die Stadtmenschen wie Anomalien, da sie ihre naturgegebenen Augen- und Haarfarben trugen. Die Aufregung der gelben Tänzer erfüllte den Raum mit freundlichen Gesprächen und Parfumduft.

Etwas in der Brust der Diebin wurde ganz eng, als sie sich klarmachte, dass sie vorübergehend wieder zu ihnen gehörte. Dass dies hier einmal ihr Schicksal gewesen war, bevor sie einen einzigen Fehler begangen hatte. Das glitzernde Puder auf ihren Händen funkelte, wie die Kette, die man ihren Händen entrissen hatte. Der Libellenanhänger hatte ihre Handfläche aufgerissen. Bald würde Cress den Mann sehen, der ihr Leben zwischen seinen mächtigen Händen zerfetzt hatte. Sie würde ihn vor sich sehen, nicht als flackerndes Bild auf dem persönlichen Screen des Herzbuben. Wenn dieser wahnwitzige Plan funktionierte, würde sie sich im selben Raum mit dem König befinden, im Kern seiner Macht, wohin noch kein anderer Farbloser vorgedrungen war. Sie schob das Kinn vor und starrte sich in die angstgeweiteten Augen, die nicht mehr ihre eigenen zu sein schienen. Die farbigen Kontaktlinsen hatten das unregelmäßige Blau, an das sie sich so schwer gewöhnt hatte, zurück in das warme Gold des gelben Bezirks verwandelt.

Sie schluckte, wandte sich von dem Spiegel ab und setzte sich ein paar Meter weiter auf eines der Sofas. Die Stoffe, die sich um ihre Beine geschlungen hatten, breiteten sich federleicht um sie herum aus. Samt stach ihr in die blaue, nackte Haut.

Wahrscheinlich würde sie doch noch negativ auffallen wegen eines blauen Flecks auf diesem teuren Sofa. Cress knetete ihre Hände im Schoß und wartete wie all die anderen Mädchen, die sich dehnten und irgendwelche Choreographien durchgingen. Cress beobachtete sie, versuchte, sich die Bewegungsabläufe zu merken und scheiterte. Die Tänze waren zu kompliziert für jemanden, der nur die ersten Monate der Tanzausbildung im Haus der Künste genossen hatte. Walsh war schon vor Stunden in den Kern aufgebrochen, ohne sich von Cress zu verabschieden. Er nahm ihr ziemlich übel, dass sie ihn abgefüllt hatte.

Die Diebin war schrecklich nervös. Sie beobachtete gebannt, wie der Sekundenzeiger auf der Uhr neben dem erloschenen Kamin quälend langsam dahin tickte. Ihr Kopf dröhnte. Sie würde das hier wirklich durchziehen. Sie war nur Minuten davon entfernt, so weit in das Herz der Stadt vorzustoßen, wie es noch kein Farbloser vor ihr getan hatte. Ohne Ketten und ohne einen wartenden Henker zumindest. Cress biss sich auf die Lippe, als Owens Hinrichtung aus diesem dunklen Loch in ihrem Bewusstsein heraussprudelte und sich die Bilder über ihren Blick auf die wirkliche Welt legten. Das zischende Plasma, das Haut, Muskeln, Sehnen und letztendlich auch Knochen zertrennte, präzise wie ein Skalpell. Die toten Augen des Assassinen mit dem viel zu guten Herzen und seine starren Lippen, die nie wieder Geschichten erzählen würden.

SkythiefWhere stories live. Discover now