34 - Herzschlag

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"Ich glaube es nicht. Du gehst wirklich", flüsterte Katena, während Cress ihre Jacke anzog, die Dolche in Ärmeln und Stiefeln verschwinden ließ sowie ihren Rucksack schulterte.

Die Diebin warf Gabriella, die immer noch schlief, einen langen Blick zu, den Kat auffing.

„Niemand wird ihr etwas tun, Cress."

Sie konnte es nicht versprechen, doch Cress war sicher, dass sie alles tun würde, um den kleinen Geist zu beschützen.

"Danke", murmelte sie, "Danke, dass du dich um sie kümmerst. Und um mich."

Kat schnaubte leise, bevor sie Cress ein letztes Mal umarmte.

„Versprich mir, dass du zurückkommst", flüsterte sie, während ihr Parfum Cress einhüllte, wie eine warme Decke. Für einen Moment schloss sie die Augen.

„Ich verspreche es."

Dann war Cress draußen in der tintendicken Schwärze der Nacht. Cyborgs und Farblose huschten durch enge Gassen, doch Cress schaffte es ihnen aus dem Weg zu gehen, bis sie den Wolkenkratzer erreichte, auf dem sie sich mit treffen würde. Mattia.

Gestern wäre sie auf dem Weg zu Chibys Werkstatt fast umgebracht worden, aber das war die Sache wert gewesen.
Er hatte jetzt einen Namen. Einen alten Namen, an den er sich erinnert hatte. Denn irgendwann war er ein Mensch gewesen.
Auch wenn Mattia sich nicht daran erinnerte, war er vor langer Zeit als Mensch geboren worden, hatte Eltern gehabt. Die Modifikationen, die er an seinem Körper vornehmen ließ, wie es Ende des letzten Jahrhunderts Mode war, hatten seinen Körper und seinen Geist verdorben.
Leitungen waren gerissen, Chemikalien ausgetreten, die den sterblichen Geist im beinahe unsterblichen Körper in den Wahnsinn trieben, bis die Cyborgs zu etwas wurden, das man nicht mehr als menschlich bezeichnen konnte. Ihre blinde Wut auf alles ungetrübte menschliche Leben, machte sie zu gefährlichen Gegnern.
Man konnte ihnen genauso wenig vertrauen, wie einem tollwütigen Tier. Sie konnten nicht sprechen, waren nicht intelligent genug, um sich zu organisieren oder gar jemanden zu täuschen.

Doch Mattia war anders, um ein Vielfaches gefährlicher. Er war die einzige Chance, die Cress hatte, wenn sie nicht in den nächsten Wochen umgebracht werden wollte.
Die hinter Mattias Rücken gefalteten Metallflügel schimmerten im schwachen Licht, das der Halbmond auf die letzte Stadt warf. Am Tag sahen die Flügel dunkel und matt aus, doch nun reflektierten sie das Mondlicht ganz sacht, wie ein nasses Spinnennetz in der Dunkelheit.

Wie eine Figur aus einem Märchen stand er an der Dachkante.

Kein Prinz, nicht der Held seiner Geschichte, sondern der Drache, der die Prinzessin entführte. Der Anblick der Flügel und die Macht, die er ausstrahlte, waren beinahe körperlich spürbar.

Als Cress nähertrat, tauchten die Züge des Cyborgs wie mit Kohl gezeichnet aus der Dunkelheit auf. Eine Symphonie aus Schatten, Wind und Stahl. Mehr als ein Mensch, mehr als ein Cyborg, gefährlicher und stärker als beide.

"Und? Hast du es dir anders überlegt?", fragte er monoton, ohne am Satzende die Sprachmelodie anzuheben. Seine hellen Augen waren kühl, aber nicht unfreundlich. Vielleicht noch weniger wahnsinnig als in der Nacht im RedLipRoulette. Wie konnte das sein?

"Wäre ich dann hier?", fragte Cress zurück.

Sie zog nervös die Riemen ihres Rucksacks fest. Es gab kein Zurück mehr. Sie war an dem Punkt, an dem sie nur noch nach vorne gehen und sich nicht mehr umblicken durfte. Sie war gerade drauf und dran einem Cyborg ihr Leben anzuvertrauen.

Dem Cyborg zu vertrauen, der sie im RedLipRoulette alle in Lebensgefahr gebracht hatte.

"Hier sind deine Flügel, Vogel." Langsam entfaltete er das Konstrukt auf seinem Rücken und tauchte sie in die Schatten der Metallfedern. "Komm und hol sie dir."

Cress zweifelte. Einen Moment lang zweifelte sie an allem, an ihrem Verstand, an dem Verstand der Welt, am Verstand des Wesens vor ihr. Dann ging sie zu ihm hinüber, bis sie wieder so nahe voreinander standen, wie in der Nacht im RedLipRoulette.

"Zeig es mir", verlangte er leise mit dieser viel zu alten Stimme. Es klang beinahe flehentlich. Langsam hob Cress ihren Arm und drehte ihm ihr Handgelenk zu. Der kleine, schwarze Vogel zog seinen maschinenhaften Blick an wie ein Magnet einen Nagel. Er hatte nichts dazu gesagt, als sie ihn gestern in der Werkstatt getroffen hatte. Nichts. Sie wusste immer noch nicht, wieso er sie verschont hatte.

"Du weißt nicht, was es ist?", fragte die Diebin noch einmal, während der Wind über das ungleiche Paar hinwegbrauste. Sein Blick schwenkte von ihrem Handgelenk zu ihrem Gesicht.

"Nein. Nebel und Staub", sein Kopf ruckte zwei Zentimeter nach unten und er brach ab, „Es ist mächtig und alt, Vogel. Verboten und gefährlich."

Einen Moment lang standen die beiden da, während die Sterne über ihren Köpfen glitzerten wie Glassplitter. Die Nächte wurden kälter und viele von ihnen waren klar wie die heutige. Der Herbst kam als Vorbote des grausamen Winters, mit dem die Wettermacher den farblosen Bezirk straften, über die Stadt.

"Sollen wir fliegen, Vogel?"

Er sah die Unsicherheit in ihrem Blick und ignorierte sie genau wie sie selbst es tat. Sie nickte angespannt.

"Dann halt dich fest."
Arme schlossen sich um sie und hoben sie hoch. Cress schlang ihre Arme um den Hals des Cyborgs und ihre Beine um seinen Bauch. Ihr Handgelenk pochte beim Gedanken an die Metallhüfte des anderen Cyborgs, der sie im RedLipRoulette angegriffen hatte. Im Gegensatz zu der halbtoten Frau, die sie gewürgt hatte, fühlte sich Mattia menschlich an, obwohl sich Metallknochen unter seiner Haut verbargen. Es war verstörend.

Die Bürger, die Sternenprediger und der König selbst hatten keine Ahnung, wie verwundbar sie in Anbetracht eines geflügelten Cyborgs geworden waren. Doch niemand sah sie am Nachthimmel, niemand schrie, niemand schoss. Als er landete, zitterte sie am ganzen Körper vor Kälte. Cyborgs strahlten keine Körperwärme aus. Die Dachschindel des Hauses klackerten leise, als Cress vorsichtig versuchte ihre tauben Beine zu stabilisieren. Hier, in einem zivilisierten Stadtteil, wirkte Mattia noch viel mehr fehl am Platz als im Farblosen Bezirk. Er zögerte.

"Bei Gelegenheit bringe ich dir das Fliegen bei."

"Wohl eher das Fallen." Keine Reaktion.

"Wir sehen uns, Vogel", war sein letzter Satz, bevor er wieder in denHimmel hinaufschoss.
Sie atmete zitternd aus und sah sich um.
Sie lebte noch.
Es hatte tatsächlich funktioniert.
Sie war wirklich hier.
Im gelben Bezirk, so nahe am Kern wie noch nie. Wahrscheinlich war sie die erste Farblose, die so etwas je geschafft hatte.

Leise lachend knetete Cress einen Moment ihre klammen Hände, bevor sie sich über die Dachrinne und auf ein Fensterbrett des Stadthauses gleiten ließ. Sie würde das hier durchziehen, das Schwert stehlen und lebendigwieder zurückkehren.
Ihr Herzschlag würde nicht verstummen.

SkythiefWo Geschichten leben. Entdecke jetzt