36 - Der Tänzer

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Das Gespräch mit Corinne war kurz und angespannt. Sie wollte ihre Nichte so schnell wieder loswerden, wie möglich. Nach einer knappen Bestätigung der Eckdaten, der Termine und ihrer Abmachung, übergab Cress ehemalige Vorgesetzte die Farblose an den Artisten, der immer noch dreinsah, als hätte er gerade etwas sehr übles gerochen.

„Also, Khalida. Willst du den ganzen Tag hier herumsitzen, oder soll ich dir ein oder zwei Dinge beibringen? Wie du im Palast überlebst, zum Beispiel?"

Gabriel Walsh verschwand aus dem Türrahmen und Cress folgte ihm, immer noch barfuß, einen langen Flur hinunter. Morgenlicht brach hinter dem Horizont hervor und die leichten, gelben Stoffe, die sie beide trugen, strahlten blendend hell auf.

„Zu deiner Information: Corinne hat mich extra für dich aus dem Kern geholt. Solltest du dich als Zeitverschwendung herausstellen, würde ich das wirklich sehr schade finden."

Er schnalzte mit der Zunge.

„Ich bin vieles, aber selten eine Zeitverschwendung", verteidigte sich Cress instinktiv, dabei hatte sie das gar nicht nötig. Walsh war nicht das typische, sanfte, gutmütige Klischée eines Gelben. Um genau zu sein wären ‚gutmütig' und ‚sanft' wohl die letzten Worte, die man benutzen würde, um ihn zu beschreiben.

Er ignorierte Cress und sprach erst zwei Gänge weiter wieder.

„Wir haben gut zwei Wochen, um dich wieder in Form zu bringen. Das heißt, wir werden von früh bis spät arbeiten müssen, um deine Haltung, deine Sprache und deine körperliche Erscheinung zu korrigieren", er drehte sich in einer einzelnen, fließenden Bewegung zu ihr um und ließ seinen Blick abwertend von Cress Zehenspitzen bis zu ihrem Scheitel huschen, „Ich hoffe, du lernst schnell, denn ich bin von Natur aus ungeduldig."

Schon sah sie nur seinen Rücken und die Verschlüsse der Goldkettchen in seinem Nacken. Cress zog hinter seinem Rücken eine Grimasse, bevor sie die Stimmen am anderen Ende des Ganges hörte, auf die sie direkt zusteuerten.

Dieser Mann hielt sich für gemein. Wahrscheinlich war er es gewohnt, dass seine Schützlinge anfingen zu weinen, wenn er unfreundlich zu ihnen war. Wobei, niemand, der noch ganz bei Sinnen war, würde diesen Kerl auf kleine Kinder loslassen.

„Wo gehen wir hin?"

„Frühstücken. Auf nüchternen Magen ertrage ich dich nicht den ganzen Tag."

„Immerhin könntest du dann nicht kotzen, wenn dir bei meinem Anblick schlecht wird", gab sie zurück. Walsh warf Cress einen halb angeekelten, halb befremdeten Blick über die Schulter zu.

„Klappe halten und essen kommen."

Sie beide würden sich verstehen. Immerhin ein Lichtblick in diesem ganzen Schlamassel.

Nach und nach erwachte das Haus zum Leben. Tänzerinnen und Tänzer bevölkerten die Gänge. Sie alle trugen einfache Kleider, keiner hatte Goldschmuck angelegt, wie Rachelle und Walsh.

Die beiden waren wohl in irgendeiner Rangordnung höhergestellt als die anderen. Schon bald wusste Cress, warum die Schaumeisterin gerade Walsh geschickt hatte, um mit ihr zu trainieren. Die Artisten auf den Gängen warfen ihm bewundernde, verstohlene Blicke zu, aber es wagte sich niemand zu nahe heran. Wenn Walsh jemanden beim Starren erwischte, starrte er zurück und sein Gegenüber suchte in der Regel das Weite, wie ein verschrecktes Tier. Für Cress interessierte sich glücklicherweise keiner. Ihre Angst, erkannt zu werden, schien unbegründet. Das hieß allerdings auch, dass sie sämtliche Mahlzeiten allein mit dem übellaunigen Gelben einnehmen musste. Es wäre ohnehin unrealistisch, dass sie jemand erkannte. Sie war so jung gewesen, als sie das letzte Mal durch diese Gänge gelaufen war.

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