79 - Überlebende

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Julian war blind, taub und stumm.

Er fühlte Nichts mehr und wenn er ganz ehrlich mit sich war, war es eine Erlösung.

Die Dunkelheit um ihn her war endgültig, ein Meer aus Gleichgültigkeit, Stille und Kälte, das sich zäh wie Karamell um seinen Geist legte und ihn in die Tiefe zog.

So weit hinunter, dass die Sonne, die zerstörte Welt und alle Menschen, die er kannte, zu fernen Erinnerungen verschwammen und wie Rauch, wie winzige Luftblasen, durch das schwarze Nichts davon trieben.

Er atmete Dunkelheit und Einsamkeit, wurde zu einem Schatten, der sich ohne Probleme in das Nichts einfügte. Und ihm wurde klar, dass er die Erinnerung sein würde, die in den Herzen und Köpfen der Menschen verblassenwürde.

Und, dass es Nichts gab, was er dagegen tun konnte.

Dass er akzeptieren musste, was vor ihm lag.

Er erkannte, dass seine Schwester bei ihm angelangt war, als sich das Szenario wandelte.

Als die Dunkelheit von bleigrau zu nachtschwarz wechselte und das Gefühl in seinem Kopf von einem unangenehmen Ziehen an der Grenze zum Schmerz zu purer Todesqual explodierte.

Er spürte nicht, wie sich die schlanken Finger seiner Schwester auf seine Augen pressten, als ob sie sie ihm auskratzen wollte und genau so wenig wusste er, dass er schrie, wie noch nie zuvor in seinem Leben.

Und, dass Ana durch den Park stolperte, auf der Suche nach ihm.

Eisgardisten kamen hinzu, um ihn festzuhalten. Eisgardisten trafen auf Ana und ihre Soldaten.

Aber das wusste er nicht, denn er hatte keinen Körper mehr, er war Nichts und niemand.

Er war Schmerz.

Er war Einsamkeit.

Er war gebrochen.

"Julian."

Cress.

Ihre Stimme war da, wie Silber in der Dunkelheit. Er wollte Schreien, wollte weinen und sie anflehen, es zu beenden.

"Julian."

Cress.

Wo war sie? Wo war er? Was war er?

"Julian."

Sein Name war ein Gebet an die Sterne, eine Klage, wie man sie noch nie gehört hatte.

"Wach auf."

Eine Berührung im Dunkeln, ein Wispern in der Stille.

Und plötzlich wusste er wieder, dass er einen Körper hatte, dass er atmen musste.

Er fuhr senkrecht in die Höhe.

Ein Caz Kristall fiel von seiner Stirn auf den Boden und die Fesseln um seine Arme und Beine schmolzen wie Butter in der Sonne.

Seine Schwester stolperte zurück, fiel zu Boden und riss die Arme vor das Gesicht, um sich vor dem strahlend hellen Licht zu schützen.

Julian krachte von der Liege auf den kalten Boden, für einen Moment genauso blind durch das Licht wie durch die Dunkelheit nur Momente zuvor.

Schreie.

Desorientiert spähte er zwischen seinen Fingern hindurch.

Eine Göttin.

Eine Göttin aus den alten griechischen Sagen stand in der Tür. Die Macht, die sie ausstrahlte rollte wie Meereswellen über ihn hinweg, gewaltig und beängstigend.

SkythiefWo Geschichten leben. Entdecke jetzt