69 - Rotkehlchen

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Als hinter ihr Blätter raschelten, fuhr May herum.

Jemand war hier. Jemand drang in ihr persönliches Heiligtum ein.

Es war die Diebin, jetzt mit gefärbten Haaren und in der Mode der Adligen.

„Oh, entschuldige", zuckte sie zurück, als sie May sah, „Ich wollte dich nicht stören. Ich ... fand diesen Teil des Gartens nur so interessant."

Sie verstummte und es wirkte, als wünschte sie, sie hätte gar nichts gesagt.

„Schon gut", sagte May aus Gewohnheit, obwohl natürlich nichts gut war.

„Soll ich wieder gehen?", fragte die Farblose und legte damit erstaunlich viel Feingefühl an den Tag.

May schüttelte nur den Kopf. Jetzt war die Ruhe, die Geborgenheit hier ohnehin zerstört. Es machte keinen Unterschied mehr, ob sie wieder ging oder blieb. Die Farblose war so ungewöhnlich klein, dass sie nie als Hochadlige durchgegangen wäre. Höchstens als eine besonders fehlerhafte Exiladlige. Aber das war wahrscheinlich auch der Plan hinter dieser Verkleidung. Ein kluger Schachzug, denn für Laurelines Oper waren sämtliche Familien des Exiladels angereist.

Bitterkeit tanzte auf ihrer Zunge. Wenn die Farblose nicht hier wäre, wäre Ascob vielleicht noch am Leben. May wusste, wie unfair sie war und auch, dass sie selbst die größte Schuld trug. Egal, was Julian sagte. Sie hätte ihren Bruder genauso gut mit eigenen Händen erwürgen können.

Cress ließ sich neben ihr auf dem Brunnenrand nieder.

„Es tut mir sehr leid, was mit deinem Bruder passiert ist", sagte sie unvermittelt. May sah nicht einmal auf. Sie hatte diesen Satz so oft gehört in den letzten Stunden, dass er an ihr vorbeizog, ohne sie tiefer zu berühren. Worte waren wertlos geworden.

Trotzdem bedankte sie sich bei der Verbrecherin, wie bei allen anderen, obwohl sie darauf achtete, sie nicht zu berühren.

May hörte, wie die Diebin ausatmete. Ein Rotkelchen hüpfte auf die moosbewachsenen Steine, die den Brunnen umgaben. Keiner der protzigen Pfaue, die in den getrimmten blauen Parks herumstolzierten. Nur ein Rotkehlchen. May fand es überraschend schön.

„Ich weiß, wie es ist, einen Bruder zu verlieren", wisperte die Diebin, während sie die rechte Hand durch das Wasser gleiten ließ. Sie hatte das Tattoo überschminkt. Klug. May sah auf, als die Bedeutung von Cress Worten sich in ihrem trüben Kopf entfaltet hatten. Der Blick der Farblosen war ebenfalls auf das Rotkehlchen fixiert.

„Wie ist er gestorben?", fragte May vorsichtig.

Cress zog sich nicht zurück, obwohl sie sonst so verschlossen war.

„Das willst du nicht wissen, glaub' mir. Feuer wäre gnädiger gewesen", flüsterte sie dann.

Angewidert zog May die Schultern noch weiter ein.

Wie konnte sie so etwas sagen? Ascob war noch nicht einmal eine Woche tot.

Cress entschuldigte sich, aber es änderte nichts daran, dass sie alles noch schlimmer machte.

„Du hättest es nicht verhindern können. Manchmal sind wir einfach machtlos. Das zu akzeptieren ist das Schwerste überhaupt. Ich kann dir nicht sagen, was dein Bruder gewollt hätte. Ich kannte ihn nicht. Aber dass du an seinem Tod zerbrichst? Das kannst du nicht zulassen. Trauere, May. Und dann sieh dich um. Mach weiter."

„Das kann ich nicht." Mays Stimme war immer noch so dünn, so hoffnungslos, obwohl sie gedacht hatte, sie hätte das schlimmste überstanden.

„Versuch' es. Hauptsache du stehst wieder auf. Steh' auf. Und nimm dir dein Leben wieder zurück."

Cress Cye erhob sich, geschmeidig, als ob sie seit sie geboren worden war jeden Moment in Bewegung gewesen wäre.

May ließ sie gehen, ohne sich zu bedanken. In ihrem Kopf hingen dunkle Gewitterwolken.

Sie würde wieder aufstehen, würde sich auf die Füße kämpfen und der Welt stellen. Aber nicht, weil sie den Rat der Diebin befolgen wollte.

Ihr Gesicht war verschlossen und hart wie niemals zuvor.

Sie würde aufstehen, um Ascobs Mörder zu finden. Wenn sie herausfand, wer es gewesen war, würde sie ihn bis ans Ende der Zeit jagen. May stand auf. Das Rotkehlchen flatterte erschreckt davon, als sie zurück zum Palast ging, als würde es die wilde Entschlossenheit fühlen, die sie ausstrahlte.

SkythiefWhere stories live. Discover now