39 - Eisstatuen

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Wenn Corinne sie nicht angetippt und auf einen hinter einem Vorhang verborgenen Stuhl gleich neben der Tür, die sich nahtlos wieder in die Wand einfügte, gesetzt hätte, wäre Cress wahrscheinlich einfach stehen geblieben. Eingefroren wie eine der Eisstatuen auf den Rängen, die sich um den Raum zogen.

Cress Tante lachte. Die Zigarre in der langen Halterung in ihrer Hand, erfüllte die ganze Loge mit dickem Rauch.

„Sieh es dir nur an."

Cress zog den roten Samt zur Seite. Der Ballsaal war riesig.

Die Wände bestanden aus glänzenden, handtellergroßen Scheiben, von denen die Diebin erst später erfuhr, dass es sich um Perlmutt handelte, das von den Wissenschaftlern gezüchtet worden war. Das Wappen der Alessandrinis prankte auf gigantischen blauen Bannern an den Wänden. Das Lachen der Adligen, die perlenden Champagner tranken, brachte die Kristalle der Kronleuchter unter der Decke leise zum Klirren. Niemand hatte einen Blick für die riesigen, bunten Fische übrig, die an der weit entfernten Decke vorüberschwammen.

Cress blinzelte und schaute noch einmal genauer hin, aber sie hatte es sich nicht eingebildet.

Die Decke, die so wirkte, als ob irgendein Riese einen Deckel für diesen übergroßen Raum gesucht hatte, bestand aus einer Glaskuppel, die den Blick in ein gewaltiges Aquarium freigab.

Die Fische, die träge durch das Wasser über ihren Köpfen zogen und die Feier unter ihnen nicht einmal zu bemerken schienen, waren das beeindruckendste, was sie je gesehen hatte. Die Schuppen streuten Lichtreflexe in den ganzen Raum.

Dieser Ort konnte nicht von Menschenhand erbaut worden sein. 

Aber das war es noch lange nicht. Die drei Ränge, die das Perlmutt der Wände durchbrachen und ebenfalls mit blauen Adligen gefüllt waren, die an Tischen saßen und irgendwelche Delikatessen vor sich stehen hatten, aber nicht aßen, wurden von kristallklaren Eisstatuen flankiert, durch die irgendeine hellblaue Flüssigkeit lief und dann eiskalt ausgeschenkt wurde.

An der Wand gegenüber erhob sich ein Podest mit zwei verlassenen Thronen.

Ein voll besetztes Orchester spielte einen Waltzer. Die Musik schwang bis hinauf zur Glaskuppel und brachte irgendetwas in Cress zum Klingen. Das hier war ein Traum.

Das konnte nicht real sein.

Federicy hatte Cress Reaktion auf diese übertriebene, irreale Umgebung beobachtet. Ihre Lippen kräuselten sich amüsiert.

„Es gefällt dir nicht."

Cress ließ ihren Blick noch einmal durch den riesigen Raum schweifen. Es sollte wahrscheinlich schön sein.Es war wertvoll, riesig, überwältigend. Aber war es schön?

„Es ist schrecklich."

Die Pracht, die Größe, das Glänzen von Lack und Juwelen und die Farben. Das Aquarium! Welche kranken Menschen bauten ein Aquarium als Decke eines Ballsaals?

Das Wasser über der Kuppel war schon erstaunlich dunkel, während draußen die Sonne blutrot hinter dem Horizont verschwand.

Cress war hier absolut fehl am Platz.

Die Schaumeisterin beobachtete ihre Nichte abwartend, was so unangenehm war, dass diese sich Walshs desinteressierte Blicke über die Schulter zurückwünschte. Sie hatte die Schwester ihres Vaters einst vergöttert, doch nun, im schweren Rauch ihrer Zigarette, war ihre Aufmerksamkeit Cress unangenehm.

Wahrscheinlich, weil die ehemalige Tänzerin so gut an diesen Ort passte, obwohl sie keine Juwelen trug. Vielleicht war es die Routine, mit der sie die Adligen musterte, die Berechnung in ihren Augen, die Cress abstieß. Sie gehörte hier voll und ganz hin, wäre ein absolut perfektes Mitglied des blauen Hofs. Doch Corinne war eine gelbe Dienstbotin, wenn auch eine Reiche. Sie würde nie auf Augenhöhe mit einem Adligen sprechen.

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