2 - Geister

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Angst brannte in den Augen der beiden Kinder, als sie zu den bedrohlich aufragenden Wolkenkratzern hinaufsahen.
Eng aneinander gedrängt knieten sie auf dem Schotterstreifen vor der Mauer, die kahlgeschorenen Köpfe viel zu groß für die zierlichen Körper.
Sie waren höchstens zehn.

Der Wind, der mit ihnen durch die Schleuse gekommen war, roch beißend nach Desinfektionsmittel. Wie ironisch, dass über den Dächern der Stadt gerade der vielleicht schönste Sonnenuntergang jemals glühte, während man das Leben dieser beiden winzigen Menschen zerstörte.
Das Mädchen zog den weinenden Jungen näher an sich und ließ ihren leeren Blick schweifen.

Für sie war Cress nur ein Schatten an der dunklen Fassade, den das warme Abendlicht zeichnete.
Die junge Frau hatte innegehalten, als sie aus dem Tor gekommen waren, wie jeder andere Farblose in Sichtweite.
Übelkeit stieg in ihr auf, als sie das mutmaßliche Geschwisterpaar sah, das barfuß und in formlosen weißen Anzügen in den Geisterbezirk stolperte.

Die Diebin ließ sich auf das Fensterbrett sinken, von dem sie sich gerade noch abstoßen wollte und spürte, wie entsetzte Kälte durch ihre Venen jagte.
Was hatten diese beiden verbrochen, um diesseits der Mauer zu landen?
Der farblose Bezirk grüßte sie mit toten Wolkenkratzern, zwischen denen sich Diebe, Betrüger, Prostituierte, Mörder, Vergewaltiger und nicht zuletzt Cyborgs tummelten.

Cress Cye kannte diese beißende Angst in den Augen der neuen Farblosen. Die Art von Angst, wegen der man sich übergab und nicht mehr klar sehen konnte. Denn sie war nicht im Geisterbezirk geboren worden, wie Katena. Sie war zu einem Geist gemacht worden, wie diese beiden Kinder. Die Diebin konnte nicht anders, als Respekt für das kleine Mädchen zu empfinden, das die Tränen zurückdrängte und mit zitternden Lippen versuchte ihren Bruder zu beruhigen.

Sie waren auf eigenen Beinen aus der Schleuse marschiert. Vor Jahren war Cress selbst halb wahnsinnig gewesen vor Wut und Angst, hatte geweint und geschrien, obwohl sie zwei Jahre älter gewesen war, als diese beiden.
Sie bildete sich ein, den scharfen Schmerz noch einmal durch ihren Kiefer zucken zu spüren, als der Soldat sie fast bewusstlos geschlagen hatte, um von ihr loszukommen. Das CARED, Colourless Affairs and Reeducation Department, versuchte solche Szenen zu vermeiden, denn es wollte die Psyche seiner kostbaren Soldaten nicht unnötig belasten.
Es sollte wohl erleichtern, dass ein Kind in seinen sicheren Tod zu schicken selbst an den Härtesten unter ihnen nicht einfach vorbeiging.

Das kleine Mädchen vor der Mauer fuhr über den kahlen Kopf ihres Bruders und begann zu singen.
So leise, dass Cress es aus dieser Entfernung zuerst nicht hörte, bis der scharf riechende Wind ihre Worte zu ihr hinauf trug.
Von Sternen sang sie, von den Göttern aus Feuer und Silber, die der hohe Orden der edlen Dämmerung dieser Stadt gegeben hatte. Cress fragte sich, wie lange die Kleine sich noch an diese Unsterblichen klammern würde, die nichts gegen ihr Leid unternommen hatten. Denn wo Menschen litten, waren auch neue Götter erfahrungsmäßig nicht fern.

Doch nicht nur die Sekten des farblosen Bezirks hatten Interesse an jungen Geistern.
Junge Farblose waren Frischfleisch, völlig wehrlos während des Prozesses, der allgemein als die Passage bekannt war.

Cress lehnte sich minimal aus dem Fensterrahmen, in dem sie stand, und spähte durch Stromkabel und die aufkommende Düsternis in die bereits dunkle Schlucht der Straßen hinunter.
Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Geisterfänger der verschiedenen Sekten, Gangs, Bordelle und Gilden auftauchten, um die beiden neuen in Augenschein zu nehmen.
Auch Cress war für einen der Verbrecherfürsten des farblosen Bezirks hier. Ihre Beweggründe waren um nichts nobler, als die der anderen Geisterfänger, auch wenn sie sich damit tröstete, dass ihr Gönner vergleichsweise human mit seinen Rekruten umsprang.

„Wie jung sind sie?", fragte jemand hinter ihr.

„Zu jung", gab sie zurück, ohne sich umzudrehen, „Die Herzdame wird auch auftauchen, um sie in Augenschein zu nehmen. Wahrscheinlich ist sie schon hier."

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