82 - Farbverräter

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Er hatte keine Ahnung.

Keine Ahnung, wie lange May noch laufen würde, keine Ahnung, wie lange der Orden brauchte, um sich zu formieren.

Keine Ahnung, wie lange sie suchen mussten, um seine Schwester zu finden und keine Ahnung, wie lange es dauern würde, bis sie ihm den Tod in Form der Knochenschwestern hinterherjagte.

Aber er wusste ein paar Dinge, die ihn einen Fuß vor den anderen setzen ließen.

Erstens: Sein Vater waren innerhalb der letzten Stunde gestorben und jetzt wollte er nur noch weg von hier.

Alles in ihm verkrampfte sich, die seltsamen Worte hallten in seinem Inneren nach wie Glockenschläge. Wie unrealistisch das alles war. Jahrelang hatte er ihm die Pest an den Leib gewünscht, und jetzt?

Jetzt war er tot.

So schnell.

Wenn er gewusst hätte, dass May hereinplatzen würde, hätte er den Dolch nie geworfen.

Nie.

Wenn er gewusst hätte ...

Er biss sich so fest auf die Wange, dass er Blut schmeckte.

Noch ein Schritt.

Zweitens: Wenn seine Schwester May und ihn selbst in die Hände bekommen würde, war es vorbei. Drittens: Er hatte Freunde und Unterstützer, die ihm beistehen würden.

Nicht dabei, die Regierung zu übernehmen, sondern dabei, zu verschwinden.

Seine Schwester war die Hohe, alles, was sie über die Vorfälle in der Halle des Winters erzählen würde, würde als unanfechtbare Wahrheit gelten. Und sobald sie wussten, dass er diesen Dolch geworfen hatte, wäre sein Leben verwirkt.

Dominique könnte behaupten, dass er Miaserus selbst ...

Der Schmerz war wie eine Droge.

Ein Betäubungsmittel, das seine Schlüsse und Gedanken zäh und langsam machte, aber Nichts gegen dieses unerträgliche Brennen in seiner Brust tat.

Gar Nichts.

Der Raum auf der anderen Seite der Brücke empfing sie mit einem offenen Plasmator.

Und einem Batallion von Frostgardisten.

Er zog May hinter sich, machte sich aber keine Illusionen.

Sie hatte keine Chance zu rennen. Aber, wenn er es schaffte, diese Türen zu schließen, könnte er sie von den Wachen abschneiden.

Das Blut rauschte in seinen Ohren, während die Männer ihre Waffen anlegten.

Julian hatte keine Chance.

Sie kamen über ihn, wie ein Schwarm glitzernder Insekten.

„Auf den Boden!"

May taumelte nach hinten, stürzte auf das Glas der Brücke.

Sie schrie auf, als man sie zu Boden drückte.

„Fasst mich nicht an!"

Sie bekam nicht einmal ein amüsiertes Lachen zur Antwort.

Ihre Macht lag auf der anderen Seite der Brücke.

Der einzige Caz Kristall im blauen Palast war der, den sie in der Brust hatte.

Und wenn sie diesen als Waffe benutzen wollte, würde sie sterben.

Julian kannte den Mann, der ihm den Stiefel auf den Rücken stellte. Brendan Talee roch nach Rasierwasser und Pfefferminze.

Aber unter den Duftstoffen roch er einfach nach Metall.

Vielleicht war es seine Rüstung, vielleicht war es auch das Blut derjenigen, die er auf dem Gewissen hatte.

„Du also auch?", presste Julian durch zusammengebissene Zähne hervor. „Anstatt dem König treu zu sein, lässt du dich von meiner Schwester kaufen wie eine billige Hure."

Talee lachte.

Sein leider gutaussehendes Gesicht war im Schatten des Helms verborgen.

„Das sagt der Richtige, kleiner Prinz. In beiden Dingen."

Julians Wange lag auf dem Stein. Handschellen schnappten um seine Handgelenke, diesmal kein Caz Kristall, sondern prickelndes Plasma. Der Stiefel bohrte sich noch tiefer in seinen Rücken und drückte ihm schmerzhaft die Luft aus den Lungen. „Ich fürchte, jetzt musst du doch sterben. Eine Schande. Es tut mir fast ein bisschen Leid, Kleiner. Nimm's nicht persönlich.", sagte der gnadenlose Mann, der seit Jahren die Drecksarbeit des Königs machte.

Aber im Gegensatz zu den Grauen dieser Nacht, waren all seine Anschläge ein Nichts gewesen.

„Du bist ein blutrünstiger Mistkerl, Talee."

„Sind wir das nicht alle?", gab er aalglatt zurück.

„Ich nicht", kam es von der anderen Seite des Raums.

Dann ging alles unglaublich schnell. Grüne Soldaten überfielen die Eisernen, Schüsse hallten durch den Raum, Plasma zischte.

Schreie.

Julian schaffte es sich unter Talees Plasmapistole wegzudrehen.

Der Schuss krachte neben ihm in den Boden.

Er kam auf die Beine, keine Waffe, um sich zu verteidigen.

Miaserus und jetzt anscheinend Dominiques Bluthund hob erneut die Pistole.

Julian starrte ihm in die Augen, die hinter dem Visier funkelten.

Er hatte keine Angst mehr.

Vielleicht fühlte er einfach gar nichts mehr, würde es nie wieder können. Und vielleicht war diese fehlende Angst in seinem Blick der Grund dafür, warum Talee zögerte.

Und zur Seite gerissen wurde.

Lukas machte sich nicht die Mühe zu schießen, er schlug Talee mit seinem Pistolengriff gegen die Schläfe und dieser stürzte wie ein gefällter Baum. „Sieht so aus, als wärst du mir jetzt was schuldig", grinste der Blonde und salutierte. „Die Süße von neulich zum Beispiel."

Julian atmete aus.

„Vergiss es."

„Harter Tag?", fragte der Soldat, während die Kämpfe um sie her erstarben.

„Zumindest ist euch jetzt nicht mehr langweilig", stöhnte Julian. Seltsam, dass er noch reden konnte, als wäre nichts geschehen. Er sah sich nach der Schülerin der Hohen um.

Nicht der Schülerin der Hohen.

Der Hohen.

Einer Hohen.

„Wenn überhaupt, dann bist du mir etwas schuldig."

Anas Stiefel waren schlammbespritzt, ihr Gesicht schweißnass und ihre Augen wild.

Als sie ihm um den Hals fiel, knallte ihm ihr Revolver an den Kopf.

Sie roch nach Plasma, Erde und Angst und ihr Herz hämmerte so laut gegen seine Brust, dass er sich fragte, warum es nicht explodierte.

Wie das von May.

„Es tut mir so leid", flüsterte sie.

„Wir haben uns stundenlang durchkämpfen müssen. Sie sind überall. Es tut mir so leid."

„Wir haben keine Zeit mehr.", mahnte Lukas und Ana riss sich von Julian los.

Sie hielt ihn an den Schultern fest, Tränen in den Augen.

Und erst jetzt, erst hier, schnürte es ihm die Kehle zu.

Erst das bisschen Geborgenheit, dass sie ihm gab.

„Wohin?", fragte Ana.

„Raus" Mays Stimme war dünn, aber deutlich zu vernehmen.

Sie stand auf eigenen Beinen, knetet ihre Hände, während die Soldaten unter Anas Kommando hinter ihr die Plasmatüren schlossen.

„Raus aus dem Kern. So weit weg davon, wie möglich."

SkythiefWo Geschichten leben. Entdecke jetzt