11 - Eine Hinrichtung

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Julian hasste Hinrichtungen. Natürlich, Blut und der Tod waren für sich genommen schrecklich, vor allem so früh am Morgen.
Die Leere in den Augen der Verurteilten hatte ihn jahrelang in seinen Träumen verfolgt, nachdem er mit dreizehn Jahren das erste Mal hier gestanden hatte. Das Gesicht der Frau, die an diesem Tag geköpft wurde, verfolgte ihn noch immer. Die Blicke, die sie nur ihm zuzuwerfen schien, hatten sich für immer in seine Erinnerung eingebrannt, als hätte er zu lange in die Sonne gesehen um die blinden Flecken wegzublinzeln. Es jagte ihm Splitter aus kristallinen Eis durch die Eingeweide.
Doch im Laufe der Zeit hatte er sich so sehr daran gewöhnt, wie es eben ging. Seine zunehmende Abhärtung gegenüber dem eigentlichen Geschehen änderte aber nichts daran, dass er eine volle Stunde im Kreis seiner Familie, genauer gesagt, neben seinem Vater stehen musste.

Noch war der König zum Glück nirgendwo zu sehen, doch seine baldige Ankunft lastete schwer auf Julian, während ihm eine gelbe Kameraasisstentin eine Abschrift der Rede vorlegte, die sein Vater halten würde. Er überflog sie, während eine Visagistin Renée eine lose Strähne zurück in ihre Flechtfrisur steckte.
Der schlichte Stoff ihres dunkelblauen Kleids raschelte, als seine Verlobte sich vorbeugte, um ihm zuzuflüstern:
"Hast du je einen von ihnen gesehen?"

Er faltete das Papier mit dem Siegel der PR-Abteilung unter dem Wappen seiner Familie zusammen und starrte geradeaus, während die Kameramänner in ihren Mänteln über den Platz huschten und der Henker sich neben dem Richtblock postierte.
Sie hatten modernere Methoden einen Schwerverbrecher zu exekutieren, natürlich. Doch eine Plasmaklinge war genauso schnell und dabei gab es noch jede Menge Blut zur Abschreckung der Bürger. Das hier war keine Routine. Man wollte ein Exempel statuieren, die Macht der Krone einmal mehr demonstrieren, indem man diesen Farblosen hinrichtete. Er sah so unauffällig aus, als man ihn über den Platz zerrte, so durchschnittlich, dass man sich auf der Straße wohl nicht nach ihm umgedreht hätte. Um die fünfzig, mit grauem, struppigem Haar und einem Dreitagebart. Er hinkte, seine Wangen waren eingefallen und die Schatten unter seinen Augen tief.
Der Mann war gebrochen worden, langsam und qualvoll. Der Kronprinz sah es an seinen wild umherhuschenden Augen. Nichtsdestotrotz brachte es der Assassine fertig, ihm vor die Füße zu spucken, als er vorbeigezogen wurde. Einer der Königsgardisten nahm sich die Freiheit, dem Assassinen zur Antwort ins Gesicht zu schlagen.

„Zeig' Respekt vor deinem zukünftigen König!", brüllte der Frostgardist und fügte an Julian gewandt ein unterwürfiges „Verzeiht, Eure Hoheit" an, während der Assassine Blut auf die frisch gefegten Pflastersteine spuckte. Dieser Mann hatte nicht mehr viel zu verlieren. Julian verabscheute Gewalt, doch wenn ihn dieser Mann öffentlich mit Disrespekt strafte, gab es nicht viel, das er tun konnte. Er trat näher, was Renée dazu veranlasste, nach seinem Arm zu greifen. Er ließ sich nicht beirren und ging vor dem Assassinen in die Hocke.

„Habt ihr gebeichtet?", fragte er, nicht höhnisch, sondern in betont neutralem Ton, „Soll ich jemanden vom Orden holen lassen?"
Der Assassine schien einen Moment lang verblüfft zu sein. Julian sah ihn nur an, während ein Zittern durch den drahtigen Körper des Mannes lief. Doch anstatt einer richtigen Antwort blubberten nur Verwünschungen über die aufgeplatzten Lippen des Assassinen. Man zerrte ihn auf ein Nicken des Kronprinzen hin fort.
Er stellte sich Renées anklagendem Blick.
„Jetzt habe ich einen von ihnen gesehen", nahm er Bezug auf ihre vorherige Frage. "Und ich bin schwer enttäuscht."

Die Augen seiner Verlobten ruhten auf dem Farblosen. Sie hatten ihm an einer dünnen Silberkette eine Herzkarte um den Hals gelegt, damit auch ja jeder, der heute in dieser Stadt vor einem Bildschirm saß, wusste, was für einen dicken Fang die Schergen des Königs ergattert hatten.
"Wen sollte er umbringen?", fragte Julian fast beiläufig. Renée wurde nicht umsonst hinter vorgehaltener Hand im ganzen Schloss ‚Hekate' genannt. Sie sah und hörte alles durch die Augen und Ohren der unzähligen Spitzel, die ihre Familie bezahlte, um dann ihre Magie wirken zu lassen, wie eine antike Göttin. Sie kam in Rekordgeschwindigkeit an gefährliche Informationen. Auch dieses Mal enttäuschte sie ihn nicht.

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