86 - Wut und Stille

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Der Satz traf Julian wie eine nur Zentimeter von seinem Kopf entfernt abgefeuerte Plasmakugel.

Cress lebt.

Er konnte es nicht glauben und wartete halb darauf, dass May sich entschuldigte und irgendeinen Irrtum aufklärte.

„Das ist unmöglich."

Sein Herz pochte so wild in seiner Brust, dass er die Welt um sich herum Momente lang nicht hörte, bevor Mays Stimme die Stille durchschnitt. „Ihr seid nur drei Sektoren von ihr entfernt. Ich führe euch hin, aber beeilt euch. Bei den Sternen ... beeilt euch! Nach Süden."

Schon im Losrennen fragte er:

„Was ist los? Wo ist sie?"

Er hasste es, nicht Bescheid zu wissen. May räusperte sich, schwieg einen Moment und merkte dann nur: „Jetzt nach links" an.

„Wo?", fragte er wieder, diesmal schon ziemlich aufgebracht.

Das ging alles zu langsam.

Cress lebte. Sie lebte.

„Die Diebin hängt bewusstlos zwischen zwei Hochhäusern."

Julian fluchte so laut und kreativ, dass jeder Farblose im Umkreis von zwei Kilometern zusammengezuckt wäre. Nur war da eben niemand. Nur Cress.

„Zwischen zwei Hochhäusern?!", bellte er in das Headset.

„Ja, es macht die Sache nicht besser, wenn du mich anschreist. Sie hängt an einem Drahtseil zwischen zwei Hochhäusern. Und wenn ihr euch nicht beeilt, dann erstickt sie."

Er hatte heute schon so viel Angst gefühlt, dass man glauben sollte, es würde besser werden. Doch das tat es nicht. Man konnte sich nicht an Angst gewöhnen, man musste sich ihr jedes Mal aufs Neue stellen, um mit ihr zu leben. Seine Kehle war so zugeschnürt, dass er kaum sprechen konnte. Lukas und sein Kollege warfen Julian fragende Blicke zu.

„Sie hängt zwischen zwei Hochhäusern", erklärte er gestresst, während die Gruppe in eine weitere düstere Straße abbog.

Die Soldaten runzelten die Stirn, wurden still, ernst und schneller. Betonbrocken, abgebrochene Metallstreben und Plakatfetzen zogen vorbei. Julian nahm es alles nur halb wahr.  Die Diebin, die er ganze Wochen bei sich versteckt hatte, lebte und hing mitten in der Luft.

Wie lange schon? Er rechnete die Stunden nach, biss die Zähne zusammen und wurde noch schneller. Sterne!

In den menschenleeren Straßen schienen seine Gedanken nur noch lauter wider zuhallen.

„Nach oben."

Mays Stimme klang so weit entfernt, dass er sie kaum hören konnte. Julians Blick kletterte eine mehr als wackelige Feuertreppe hinauf, die im Wind knarrte. Er ließ den nutzlosen Benzinkanister am Boden zurück, prüfte misstrauisch die Stabilität der Treppe. Lukas trat neben ihn und bemerkte: "Das ist zu riskant."

„Nach oben", wiederholte Julian Mays Worte, wenn auch um einiges tiefer und heiserer. Lukas schüttelte nur missmutig den Kopf, widersetzte sich einem Befehl seines Kronprinzen aber nicht weiter.

Die Soldaten brauchten nur ein paar Momente, um Seile und Karabiner auszupacken, in Klettergurte zu schlüpfen und sich dann an den Aufstieg zumachen. Selbst gesichert, wie sie es waren, war die Aktion mehr als gefährlich. Das Metall knarrte unter Julians Gewicht, als er sich immer weiter daran nach oben in Richtung der steingrauen Wolken hangelte.

Seine Muskeln brannten von dem langen Lauf und die fast unmögliche Klettertour machte das natürlich nicht besser. Er fluchte, als eine Schraube, die die Leiter fixiert hatte, aus der Wand sprang und auf den Teer hinunter trudelte.

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