37 - Lektionen

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Am nächsten Morgen wurde sie nicht von sanftem Vogelgezwitscher, sondern dem Geräusch von auf ihre Tür einschlagenden Fäusten geweckt. Cress schoss in die Höhe, bereit, Schläge zu verteilen oder einzustecken. Doch es war nur Walsh.

„Tick tack, du hast fünf Minuten. Sonst gehe ich ohne dich und trinke meinen ersten Kaffee darauf, dass du dich hier verlaufen hast und elendig verhungerst", erklang es durch ihre Tür.

Ächzend schwang die Diebin ihre bleischweren Beine über die Bettkannte und hätte am liebsten angefangen zu weinen. Einzig die Aussicht auf die frischen Waffeln, die Rachelle angepriesen hatte, hielten sie vom weiterschlafen ab. Cress hatte eine Minute länger gebraucht, also musste sie rennen, um ihn noch zu erwischen, bevor er außer Sichtweite verschwand. Ihre Oberschenkel brannten, als sie bei ihm ankam.

„Ich hasse dich", stöhnte sie und kassierte einen gleichgültigen Blick aus goldenen Augen.

„Das ist schön. Dann habe ich mein Tagesziel bereits erreicht."

„Ich bin mir immer noch nicht ganz sicher, ob du dir diese Masche extra für mich zurechtgelegt hast, oder ob du wirklich so bist", murrte sie und massierte sich im Gehen die schmerzenden Muskeln. Walshs rechter Mundwinkel zuckte nach oben, nur um dann ganz schnell wieder nach unten zu sacken.

„Ich bin wirklich so, glaub ja nicht, dass ich irgendetwas extra für dich machen würde. Und wenn du mich vor meinem ersten Kaffee nochmal ansprichst, rennst du heute zehn Kilometer mehr."

Als sie in der Küche ankamen, war diese dunkel und verlassen. Walsh öffnete einen Kühlschrank – so etwas hatte Cress ewig nicht mehr gesehen – und drückte ihr eine Salatschüssel in die Hand.

„Alles muss man selbst machen", murrte er und fing an, Gemüse zu schneiden. Sie zog sich auf die Anrichte und stellte die Salatschüssel neben sich ab.

„Wieso warst du überhaupt im Kernbezirk?", fragte sie dann, hauptsächlich um ihr Magenknurren zu übertönen. Gelbe waren andauernd im Kern unterwegs, denn niemand außer den Adligen konnte es sich leisten Geld auszugeben, um sich eine ihrer Vorstellungen anzusehen. Es interessierte Cress nicht wirklich, was er da genau trieb. Doch anscheinend hatte sie einen Nerv getroffen, denn Walsh hob den Blick und senkte das Messer.

„Bis zum ersten Teil von Laurelines Oper ist es nicht einmal mehr ein Monat. Wir sind alle andauernd im Kern, weil es sehr viel Arbeit ist, so etwas auf die Beine zu stellen", er begann wieder auf den Fenchel einzuhacken, „Ein Fehler und deine Karriere ist vorbei. Mach alles perfekt und du gehst in die Geschichte ein. Habt ihr keine Screens, oder was?"

Cress hörte ihm schon lange nicht mehr zu.

Der erste Teil der Laureline Oper. Seine Worte hallten in ihrem Kopf wider und kitzelten ihre Vorstellungskraft wach. Er sprach vom Fall des Sterns, der größten Darbietung, die diese Stadt jemals zu Gesicht bekommen würde. Diese Oper ein Ereignis, das nicht jede Generation in ihrer Lebzeit auf den Screens verfolgen konnte. Ein lebendiges Kunstwerk, geschaffen, um die Sterne und die Frau, die diese auf der Erde vertrat, zu ehren.

Der hohe Orden konnte den Todeszeitpunkt einer Hohen auf die Minute genau berechnen, da diese immer genau hundert Jahre lebte. Das wurde auch als Beweis für die Macht der Sterne und deren Einfluss auf das alltägliche Leben gesehen. Alle hundert Jahre, wenn der Tod einer Hohen eintreten würde, wurde diese zweiteilige Oper aufgeführt. Ein Teil vor ihrem Tod und einer danach. Sämtliche Tänzer, Schauspieler und Artisten des Gelben Bezirks arbeiteten ihr Leben lange zusammen, um dieses Schauspiel zu inszenieren.

Du bist gerade zur rechten Zeit geboren, hatte Cress Vater an einem warmen Sommerabend gesagt, Du darfst dort singen.

Nur wusste er nicht, dass seine Tochter ein Verbrechen begehen würde, dass sie ihre Farbe kosten würde. Etwas so schönes wie Laurelines Oper wurde nicht in die Außenbezirke übertragen. Sie hätte nie gedacht, dass sie jemals wieder jemandem gegenüberstehen würde, der direkt an diesem legendären Schauspiel beteiligt war. Die Oper, in der sie aufgetreten wäre.

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