22 - Tinte und Blut

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„Du warst wo?", fragte Chiby völlig perplex.

Cress hatte ihren Kopf auf ihre Unterarme gebettet, während der Scharfschütze mit der Baskenmütze neben ihr saß. Seit sie zurückgekommen war, hatte sich nicht besonders viel ereignet. Sie hatte sich fast die Haut vom Leib geschrubbt im Versuch den verräterischen Geruch der Kanalisation wieder loszuwerden, hatte für zwei sehr hungrige Menschen gegessen und dann fast den ganzen Tag verschlafen, nur um auf dem Weg zu einem wohlverdienten Frühstück, beziehungsweise Abendessen, vom Kreuzbuben persönlich Wachdienst aufgedrückt zu bekommen.
Die Diebin saß nun in der späten Dämmerung mit dem Sechzehnjährigen auf einem der Posten hoch über der Stadt und durfte zusehen, wie sich Chibys Ohren scharlachrot färbten vor Aufregung.

„Das gibt es nicht!", frohlockte dieser angesichts der aufregenden Neuigkeiten, „Du warst in den Wäldern? Einfach so?"

Cress taxierte durch ein Nachtsichtgerät eine der Gassen, die sie bewachen sollten, um verstreute Cyborgs frühzeitig abzufangen, bevor sie größeren Schaden anrichten konnten.

„Ich bringe mich nicht einfach so in Lebensgefahr", gab sie zurück, ohne das Gerät abzusetzen.

„Der Auftrag also", zählte er eins und eins zusammen, „Krass! Warum hast du mich nicht mitgenommen?"

„Weil du ein nerviges Kleinkind bist."

Wäre Chiby ausgerastet, wenn er die Blaue gesehen hätte? Es war fraglich, ob sie es mit ihm im Schlepptau überhaupt bis zum Haus geschafft hätte. Der Scharfschütze legte in seinen alltäglichen Bewegungen nicht gerade die Eleganz an den Tag, mit der seine Kugeln ihr Ziel fanden.

„Was hast du gestohlen?", bohrte er nach. Cress stöhnte frustriert auf. Sie hätte ihm gar nichts von ihrem Ausflug erzählt, wenn er sie nicht dabei erwischt hätte, wie sie triefend vor Kanalisationsschlamm aus einem der Gullis gestiegen war. Wenn sie so weiter machte, würde sie ihren Titel als beste Diebin des farblosen Bezirks bald los sein, noch bevor der Kreuzbube sie durch Alin ersetzen könnte. Der Gedanke versetzte ihr einen Stich.

„Jetzt lass dir nicht alles aus der Nase ziehen!", bettelte Chiby. Dass Cress ohne das Wissen des Kreuzbuben unterwegs gewesen war, machte ihn nur neugieriger. Wann er wohl darauf kommen würde, dass er sie erstklassig erpressen könnte, indem er damit drohte, selbigen über ihre Machenschaften zu informieren?

„Mensch, Cress!"

Ich drückte das Nachtsichtgerät noch näher an die Augen und blinzelte.

„Da kommt was."

Augenblicklich war Chiby still. Ich wusste, dass er die Welt nun durch sein Fadenkreuz fixierte. Vier Gestalten, den Umrissen nach Männer, waren auf dem Weg in Richtung Clubssquare. Einer von ihnen taumelte, was hin und wiedre einen Cyborg kennzeichnete. Allerdings konnte ich kein blitzendes Metall an ihnen ausmachen.

„Menschen", bestätigte Chiby, dumpf durch seine Atemmaske. Sie blieb unbewegt, musterte die kleine Truppe, die inzwischen in der Gasse angehalten hatte. Der schwankende Mann stand mit dem Rücken zur Mauer da und diskutierte hitzig mit den drei anderen. Diese gestikulierten, machten derbe Gesten und offenbarten dabei ihre Hände.

„Pechfinger", ließ sie Chiby wissen, „drei von ihnen. Den vierten kenne ich nicht."

Wenn jemand aus irgendwelchen Gründen von den Clubs verstoßen wurde, ließ der Kreuzbube die rechte Hand der in Ungnade gefallenen bis zum Ellenbogen hinauf permanent färben, um das Clubs Tattoo zu überdecken und auf den ersten Blick zu verraten, dass es sich bei diesen Männern und Frauen um in Ungnade gefallene handelte.
Im Laufe der Zeit hatten die anderen Gangs seine Vorgehensweis übernommen. Seit sie alle so ein Problem mit dem Nachwuchs hatten, waren allerdings nicht viele rechte Hände mehr gefärbt worden, weder unter den Clubs, noch bei den Hearts, Diamonds oder Spades.

SkythiefWhere stories live. Discover now