73 - Instinkte

1.7K 222 2
                                    

Sie hatte irgendetwas gesucht.

Julian hatte nicht zweimal in Richtung der Trainingspuppe gesehen, als er wiedergekommen war. Er war sich sicher, dass es weg war. Also war seine Laune noch schlechter geworden und er war missmutig unter die Dusche gestiegen.

Er hatte eigentlich nur ein Handtuch gebraucht.

Seine Finger zogen ein zerwühltes Tuch aus dem Chaos hervor, in das sie seine Badezimmerschränke verwandelt hatte. Sie hatte das Buch mitgenommen, das er aus Spaß vor ihr versteckt hatte.

Julian überlegte es sich anders, schlüpfte nass in seine Kleidung und stürmte aus dem Badezimmer. Er vertraute auf seine Instinkte, eines der wenigen Dinge, auf die er sich fast immer verlassen konnte.

Sein Unterbewusstsein brüllte ihn an, aber er verstand es kein Wort.

Dass sie weg war, überraschte ihn zwar, aber weniger, als er zugeben wollte. Sie hatte den wertlosen Zahnstocher von Schwert mitgenommen. Natürlich.

Aber wieso hatte sie ihre Energie darauf verschwendet, das Jane Austen Buch zu suchen, wenn sie dadurch das Risiko steigerte, noch einmal von ihm erwischt zu werden?

Er wurde misstrauisch. Die Art von misstrauisch, die einen vor brüllende Tatsachen stellte, ohne, dass man ein Wort verstand.

Ein paar dunkle Hosen von Ana, ein paar ihrer Stiefel und ein T-shirt fehlten. Und – er runzelte die Stirn – sie hatte seine schwarze Armeejacke mitgenommen. Also hatte sie auf keinen Fall vor, zurückzukommen, denn war es eher hinderlich als nützlich, eine mit Plasma gepanzerte Jacke zu tragen.

Er bemerkte, dass er dem Spiegel gegenüberstand und musterte sich kopfschüttelnd. Er würde ihr nicht hinterherrennen. Es war ihre Entscheidung gewesen, das Risiko zu wagen, anstatt hierzubleiben. Sie wollte seine Hilfe nicht.

Das war die einzig logische Schlussfolgerung, also setzte er sich, schenkte sich Tee ein und starrte ins Feuer.

Aber das Misstrauen räkelte sich in ihm wie ein Tier, das aus dem Winterschlaf erwachte.

Als er das erste Mal auf die Uhr sah, war nicht einmal eine Minute vergangen.

Beim zweiten Mal waren es eineinhalb Stunden.

Sie war ihm keine Rechenschaft schuldig.

Wenn sie sich da draußen umbringen wollte, bitte.

Er hatte ihr nur ein Angebot gemacht. Ein Angebot von Sicherheit, das ihr anscheinend egal war.

Das hätte er sich eigentlich denken sollen.

Und er wusste es.

Aber seine realen Gedankengänge waren düstere, wütende Wolken aus Zweifeln.

So hatte er sie nicht eingeschätzt. Cress war klug, eigennützig und leider auch mutig.

Unberechenbar.

Er spielte verschiedenste Optionen im Kopf durch, überlegte und wollte sich gleichzeitig zwingen etwas anderes zu tun.

Sie war nicht hier.

Und das Misstrauen verwandelte sich in Sorge.

Sie würde ihn auslachen, wenn sie ihn jetzt sehen könnte, wie er dasaß. Sein Körper still, seine Gedanken tanzend wie die Flammen im Kamin.

Normalerweise hätten die drei kleinen schwarzen Katzen sich längst auf seinem Schoß eingerollt, aber heute lagen sie auf dem Flügel und verschmolzen mit dem glänzenden Lack, während sie ihn aus Glühwürmchenaugen beobachteten. Nach eineinhalb Stunden unter Strom stellte er seinen kalt gewordenen Tee weg, und begann das Mädchen zu suchen, das in einer dunklen Gasse sein Leben gerettet und sich an einem hellen Strand an ihn geklammert hatte.

SkythiefWo Geschichten leben. Entdecke jetzt