47 - Den Himmel lesen

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Die Gerüchte breiteten sich aus wie ein Lauffeuer.

Ein Anschlag?

Ein Fehler in der Konstruktion des uralten Gebäudes?

Bis auf May wusste niemand, was passiert war.

Aber später, als sie die Hohe für eine Stunde Astronomie traf, sah sie May seltsam an.

Zweifelnd.

„Hast du die Gerüchte gehört?"

Der Himmel wölbte sich klar und dunkel über ihnen, während die Hohe sich den silberdurchwirkten Schal fester um den Hals zog.

Es war eine kalte Nacht, aber Mays Angst ließ sie die Kälte vergessen.

Die Hohe konnte es nicht wissen. Was auch immer auf der Galerie passiert war, war gefährlich gewesen.

Und verboten.

May hatte Caz Kristalle manipuliert, sie einfach aus der Wand springen gelassen.

Sie war keine Hohe, sie durfte diese mächtige Gabe überhaupt nicht beherrschen.

Das Einzige, was sie können sollte, war unauffällig und vorbildlich zu sein.

Anscheinend konnte sie das nicht.

May war ein einziger Fehler im uralten System des hohen Ordens.

Niemand durfte es herausfinden, oder sie wäre in höchster Gefahr. Als ob die Hohe ihre Gedanken gelesen hätte, kam sie auf ihre Schülerin zu.

Sie war May noch nie so nahe gewesen wie in diesem Moment, als sie sich zu ihr herunterbeugte.

Kühle Finger umschlossen ihr Handgelenk.

„Ich weiß, dass du es warst."

Obwohl Ryas Stimme sanft wie der Frühlingswind war, erstarrte May.

Sie spannte sich an, bereit zur Flucht.

„Ich habe darauf gewartet, dass es passiert."

Mays Welt stand Kopf.

Die Hohe hatte es gewusst?

Sie hatte es erwartet?

Langsam trat Rya wieder einen Schritt zurück und drehte Mays Hand langsam um.

Ihre Finger ruhten auf dem innerem Handgelenk ihrer Schülerin, über der Rose, die sich dunkelblau von ihrer hellen Haut abhob.

„Das hier hat dir niemand stechen lassen. Das hast du, seit du bei uns bist."

May runzelte die Stirn, fuhr mit den Augen die geschwungenen Linien der Blüte nach.

„Woher kommt es dann? Und was hat das mit diesen Kräften zu tun?"

Sie versuchte ruhig zu bleiben, war sich aber ziemlich sicher, dass die Hohe ihren Puls flirren spürte.

„Ich verstehe es nicht. Ich ..."

Mays Stimme versagte, aber sie riss sich zusammen.

„... ich bin nicht die Hohe. Das ist alles ein Fehler."

Die Rya ließ sie los, hob die Hand und deutete in den Himmel hinauf.

„Es ist unsere Aufgabe die Sterne zu beobachten, die Zeit und die Wahrheit, weil diese drei Dinge untrennbar verbunden sind.

Und seit jeher gibt es im Muster der Sterne eine Anomalie, die unerklärbar war. Bis jetzt."

Die Finger der Hohen flogen durch die Luft und lenkten das Licht der Sterne über in Caz Kristalle gefasste Spiegel zur Mitte der kreisrunden Platzes. Auf dem schwarzen, spiegelnd glatt polierten Granit erschien das Sternbild, auf das sie gezeigt hatte.

„Du weißt, dass diese Sternreihe ..."

Rya deutete auf die kleinen Lichtpunkte am Boden.

„... für die Hohen stehen, die gestorben sind."

May nickte.

Sie war unbeschreiblich erleichtert.

Es gab eine Erklärung für das alles und sie lag im Nachthimmel verborgen, bei ihren Göttern selbst. Er war May vertraut.

Er gab ihr Sicherheit, genau wie die Hohe, die keine Anstalten machte, ihre Schülerin für die unerwünschte Gabe verantwortlich zu machen.

„Was du aber nicht weißt, ist, dass diese Sterne", Rya deutete auf zwei Lichtpunkte, die so eng zusammenstanden, dass man sie fast für einen Stern halten könnte. Fast. „die momentane Hohe symbolisieren. Normalerweise ist es ein Stern, der dort steht. Im Moment ..."

„... sind es zwei", flüsterte May.

Rya nickte und schwieg, während die Schülerin der Hohen ihre Gedanken sortierte.

Zwei Hohe?

Das konnte gar nicht sein.

Das hatte es noch nie gegeben.

May war nicht für hundert Jahre unsterblich.

Sie war keine Hohe, würde es höchstwahrscheinlich nie sein. Es war eine Ehre, die neue Hohe einweisen zu dürfen und damit ihre Aufgabe zu erfüllen.

Sie war nicht mächtig, sie war nicht wichtig.

Und trotzdem hatte Rya sie als ihre Schülerin auserwählt.

„Wieso wusstet Ihr, dass ich es bin?"

Ein kühler Luftzug fuhr in Ryas Locken, die ihr heute offen über die Schultern fielen.

Sie lächelte.

„Du warst schon immer etwas Besonderes."

Das war nicht gerade hilfreich, aber Mays Gedanken flochten sich ineinander und schon hatte sie hundert andere Fragen.

„Was passiert jetzt? Kann ich es überhaupt kontrollieren? Kann ich es lernen?"

Die Hohe bewegte die Finger und weitere Teile des Nachthimmels tauchten auf dem Boden auf.

Die Lichtpunkte huschten über Mays Gesicht und blendeten sie für einen Moment, weswegen sie den harten Ausdruck, der über Ryas Gesicht flackerte, nicht bemerkte.

„Es hat noch nie jemanden wie dich gegeben. Noch nie haben zwei Menschen gleichzeitig diese Fähigkeiten gehabt. Ich habe nicht mehr lange Zeit, bis zur Silbernacht und ich weiß nicht, wie viel du von mir lernen kannst. Aber wir müssen es versuchen."

Diese Unsicherheit, dieses Eingestehen der eigenen Schwäche, passte überhaupt nicht zu Rya.

Und May wurde klar, dass sie nicht länger die Kleine mit dem schnellen Verstand war. Die Hohe sprach auf Augenhöhe mit ihr.

Sie waren sich ebenbürtig, teilten dieselbe Kraft.

Langsam streckte Rya die Hand aus.

Die Spiegel schwenkten nach oben, das dunkle Abbild der Sterne verblasste.

Und die Lichtpunkte hielten inne, als May die Hand ausstreckte.

Da war ein Riss in ihr, durch den diese unbeschreibliche Macht sickerte.

Sie war es, die die Spiegel anhielt, gerade so, dass die Lichtpunkte auf das Gesicht der Hohen fielen und ihre weißen Augen in Diamanten verwandelten.

Es war berauschend, erschütternd und brachte jede Faser in May zum Klingen.

Sie war ein Resonanzkörper für die Macht.

Ihre Finger zitterten, als die Spiegel zerbrachen und die Splitter über den Granit schlitterten.

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