72 - Freund

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Als sie fiel, war es schlimmer, als in der Nacht, in der sie die Achlysformel gestohlen hatte. Denn dieses Mal war kein See unter ihr, der ihren Sturz irgendwie aufhalten konnte.

Doch sie sprang nicht, weil sie lieber auf diese Weise sterben wollte, als hingerichtet zu werden.

Nein, sie sprang, weil sie über das Knattern der Motoren, das Summen der Plasmawaffen, das Rauschen des Winds und Anas Worte noch etwas anderes gehört hatte.

Flügel.

Er fing Cress auf, sodass sie mit voller Wucht gegen seine Brust donnerte, in der kein Herz schlug.

„Hallo, Vogel", grüßte eine viel zu alte, viel zu raue Stimme.

Keuchend, schweißgebadet und zitternd vor Angst klammerte sie sich an Mattia. Er schloss die unnatürlich starken Arme um die Diebin und schoss in die Höhe, sodass er wie ein Todesengel mit Metallflügeln über dem Rand der Klippe auftauchte und Cress Verfolger in Schreckensstarre versetzte. Soldaten, die schon viele Menschen getötet hatten, ohne mit der Wimper zu zucken, fielen auf die Knie. Renée starrte mit offenem Mund den Albtraum an, der vor ihr in der Luft schwebte, während der Sturmwind seines Flügelschlags sie fast von den Füßen riss. Todesangst stand in den Augen der Kernbewohner. Ein Gefühl, dessen Horror sie noch nicht gekannt hatten.

Nur noch ein Wunder hätte Cress vor ihnen retten können. Ein Wunder hatte sie gerettet.

Als sie in den Nachthimmel hinaufjagten und ihre Verfolger unter ihr mit dem dunklen Grasteppich verschmolzen, stieß Cress keuchend die angehaltene Luft aus. Der blaue Palast und der weiße Turm des Ordens strahlten in der Nacht, während ihre Ohren taub wurden von der Kälte. Sie hätte ihn gerne gefragt, wieso er hier war, aber dafür schlugen ihre Zähne zu stark aufeinander, als sie über die hell erleuchteten Bezirksgrenzen und die Lichter dazwischen hinweg schossen.

„Danke", bekam sie irgendwann heraus.

Er schmunzelte nicht, wie Julian es getan hätte. Wie Rauch und Schatten blieb er totenstill, während das perfekte Zusammenspiel der Mechanik auf seinem Rücken sie mit jedem Flügelschlag weiter vom Kern wegbrachte. Von König und Kronprinz, Prinzessin und zukünftiger Königin. Irgendwann verlangsamte sich Cress Atem und sie schloss die Augen. Sie hatte es geschafft, zu entkommen. Mattia hatte sie nicht hintergangen. Und das Vertrauen, das sie in ihn gesetzt hatte, war nicht unbelohnt geblieben. In der Nacht, in der Chiby seinen Flügel repariert hatte, hatte sie ihm ihre Geschichte erzählt. Er hatte zugehört, leise und aufmerksam, während der vor Angst halb wahnsinnige Chiby seinen linken Flügel auseinandernahm, um das Ersatzteil einzusetzen. Als sie den Halbmenschen um einen Gefallen bat, hatte er ihn nicht abgelehnt. Und er hatte sie auch nicht umgebracht, nachdem er bekommen hatte, weswegen er gekommen war. Mattia war einzigartig. Sie hatte nur einen Namen, ein Wort, das uns verband. Doch es reichte aus. Wegen dieses Worts fühlte sie sich, hoch oben und der Gnade eines Cyborgs ausgeliefert, so sicher, wie schon lange nicht mehr. Seufzend lehnte sie die Stirn an seine Schulter, aber einschlafen konnte sie nicht.

Völlig ungerührt von der Tatsache, dass er gerade den Kern gesehen hatte, steuerte er mit der Diebin in den Armen durch die Nacht. Ihre mit Erde und Gras verschmierten Waden brannten vom Rennen. Und sie roch schrecklich nach Pferd, was aber im Moment leider zu ihren kleineren Problemen zählte. Nicht nur das Donnern der Flügel, sondern auch der Halbmondring, der an Walshs Goldkette sanft gegen ihre Brust schaukelte, hielt sie davon ab, wegzudämmern.

„Schlaf, Vögelchen", brummte Mattia, wie ein gutmütiger Bär. Sie unterdrückte ein Gähnen, schloss die Augen und atmete aus.

Dann zerriss die Welt in einen Vorhang aus blauen Funken.

SkythiefWhere stories live. Discover now