3 - Fliegen

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Dort, wo die gegenüberliegende Wand hätte sein sollen, war ein schmales Drahtseil in eine mit Graffiti überzogene Betonsäule gerammt worden. Dahinter lag die Dämmerung zwischen den gigantischen Hochhäusern und die Lichter, die von Bezirk zu Bezirk heller wurden, bis hin zum strahlenden Palast und den weißen Türmen.

Doch Farblose hatten in der Regel nicht die Zeit oder Muse, sich länger als nötig mit dem atemberaubenden Ausblick zu befassen.
Die Nächte hier waren noch gefährlicher als die Tage, denn all die in den Schatten verborgenen Gestalten wagten sich nun bis hinauf auf die Dächer der gesetzlosen Bezirke. Kannte man die Straßen und Schleichwege nicht, war man in diesem Dschungel aus Beton vollkommen verloren.
Niemand würde zu Hilfe eilen, wenn früher oder später jemand beschloss, dass man einen Angriff wert wäre. Der Farblose Bezirk war gnadenlos. Das würden die beiden neuen Geister in wenigen Minuten lernen.

Cress streifte sich im Gehen ihre Handschuhe über und zog eine Rolle mit einer Schlaufe daran von ihrem Gürtel.
Diese hakte sie gefolgt von zwei Karabinern in das Drahtseil ein, das in schwindelerregender Höhe im Beton verankert worden war.

Wenn die Straßen so gefährlich wurden, musste man neue Wege finden, um sich unkompliziert und ungesehen durch die Stadt zu bewegen, vor allem, wenn man ein Schatten war, wie Cress.

Sie trat vor bis an die Kante, so weit, dass ihre Schuhspitzen über den Rand hinausragten.
Man hatte ihr viele Namen gegeben, weil sie scheinbar aus dem Nichts zwischen Asphalt, Teer und Stahl auftauchen konnte, wann auch immer sie wollte.
Dabei war der Schlüssel dazu so simpel.

Sie hatte es schon tausendmal getan. Ein Blick nach oben - einatmen - ein Blick nach unten - ausatmen.
Dann tat sie den letzten Schritt in die Leere, ließ sich von ihrer Konstruktion über die in diesem Bezirk absolut lichtlosen Straßen tragen.
Der Schattenvogel flog auf unsichtbaren Schwingen. Haare peitschten um ihr Gesicht, während ihre dunkle Jacke hinter ihr im modrig kühlen Wind flatterte.

Sie war so schnell, dass die Abendkühle auf ihrem Gesicht schmerzte, wo die Atemmaske es zuließ. Doch obwohl es wehtat, schloss sie ihre Augen nicht.
Das tat sie nie.
Denn wie alle anderen Farblosen hasste sie es, blind zu sein. Machtlos wie damals, als sie selbst es gewesen waren, die man auf den Schotterstreife vor der Mauer geworfen hatte.
Auch wenn es oft gnädiger gewesen wäre, wegzusehen, tat sie es nicht.

Sie konnte nicht, denn sie sammelte all diese Eindrücke, all diesen Schmerz in einer düsteren Ecke ihres Bewusstseins und ließ den Hass glühen, der sie auf den Beinen hielt. Es war zu etwas wie einer Sucht geworden, wobei sie all die Schuld an dem Schmerz, den sie erfuhr, einem einzigen Mann zuschrieb.

Einem Mann, der eine Krone aus nie schmelzendem Eis trug.
Ihre Schuhsohlen kolidierten mit bröckelndem Putz, als sie das nächste Hochhaus erreichte.
Innerhalb weniger Sekunden hatte sie den zerstörten Raum durchquert, das nächste Seil und die nächste unnatürliche Schlucht erreicht.

Der König hatte sie verurteilt, wie die beiden Kinder unten auf den Straßen. Doch hier hatte er keine Macht, keine Möglichkeit und kein Interesse, den Kampf zu unterbinden, der auf den Straßen entbrannt war, über die sie hinwegschwebte.
Die Assassinen der Herzdame, die Diebe des Pikbuben, die Söldner des Karobuben und die des Kreuzbuben hatten alle ein Auge auf die Neuankömmlinge geworfen.

Die Karten dieser Nacht waren gemischt und ausgegeben worden, sodass das Spiel um die Leben der beiden jungen Geister in der aufkommenden Dunkelheit beginnen konnte. Niemand gab auch nur vor, fair zu spielen, das wusste Cress.
Doch hätte sie nicht im richtigen Moment den Kopf gewandt, hätte sie wohl nicht bemerkt, dass sie schon jetzt verfolgt wurde.

Ihr Kopf ruckte nach rechts, als sie eine Bewegung wahrnahm.
Weniger eine Bewegung als ein Aufblitzen von wolkenweißem Haar.

Sie fokussierte sich wieder, traf mit den Fußsohlen zuerst auf der nächsten Betonsäule auf, drehte sich in der Luft und hakte die Schlaufe aus dem Seil aus, sodass sie in der Hocke auf dem zersplitterten Parkett landete.

SkythiefWo Geschichten leben. Entdecke jetzt