23 - Ungnade

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Marie beugte sich hinunter, um seinen Puls zu fühlen. Sie war Cress auf der Hälfte der Brücke entgegengekommen, um den Verletzten in Augenschein zu nehmen.

„Er ist kein Club", zischte die Heilerin angespannt, „Er dürfte gar nicht hier sein."

Marie nahm seine Oberarme in Augenschein, die weder ein Kartenkreuz, noch ein anderes Gildenzeichen aufwiesen.

„Er hat mein Tattoo", war alles, das Cress dazu sagte.

Ihr Gegenüber kannte den kleinen Vogel auf der Innenseite des rechten Handgelenks der Diebin natürlich, da sie diese schon mehr als einmal zusammengeflickt hatte. Sie wusste auch, dass Cress steif und fest behauptete, dass sie sich dieses Tattoo nie hatte stechen lassen. Einen Moment lang schwieg Marie, an deren Tür Cress gerade Sturm geläutet hatte. Schon im Schein der Kerze, die Marie mit nach draußen genommen hatte, sah die Wunde gefährlich tief aus.

Marie zögerte.

„Cress, du weißt, dass ich das wahnsinnig gerne für dich tun würde, aber wenn der Kreuzbube herausfindet, dass ich einen Fremden behandele, während das Lazarett bis obenhin voll mit Clubs ist, bin ich dran."

Die Diebin ließ ihren Blick auf dem jungen Mann ruhen, der inzwischen ohnmächtig geworden war.

„Ich habe ohnehin schon Ärger mit ihm. Wenn er etwas bemerkt, nehme ich die Schuld auf mich."

Der Fremde blutete auf die Brücke. Sie konnte das Kupfer riechen, wie es langsam aus ihm heraussickerte und zwischen den Holzplanken hinunter in den offenen Schlund des farblosen Bezirks tropfte.

„Bitte, Marie", die Worte waren ungewohnt für Cress und die Heilerin merkte so ruckartig auf, dass die Glöckchen in ihrem Haar klingelten, „Die Tattoos sind zu ähnlich. Es kann kein Zufall sein. Vielleicht hat er die Antwort."

Die Diebin wusste, dass sie sich weit aus dem Fenster lehnte, indem sie sich an Marie wandte. Doch unter all ihrer Berechnung, unter all ihren Schatten, war sie doch Heilerin. Der Schein ihrer Kerze huschte über den dunklen Fleck auf dem Hemd des Fremden. Einen sterbenden Abzuweisen, war nichts, das ihr leichtviel. Hinzu kam, dass Cress nie jemanden um etwas bat. Es wäre eine außerordentliche Chance, den Schattenvogel in seiner Schuld stehen zu haben. Die Diebin konnte die Gedanken förmlich sehen, die hinter der Stirn der Heilerin geboren wurden.

„Bring ihn auf die andere Seite", verlangte Marie dann leise, „in den Quarantäneschuppen. Ich bin in ein paar Minuten da."

„Danke", seufzte der Schattenvogel erleichtert.

Die Heilerin hob die Hand. „Du wirst mich dafür entschädigen, Cress. Ich setze hier viel aufs Spiel für dich."

Das war Cress bewusst. Um ehrlich zu sein hatte sie nicht damit gerechnet, dass Marie ihr helfen würde. Wahrscheinlich war sie auch neugierig zu erfahren, was für eine Geschichte sich hinter dem Tattoo der Diebin verbarg. Marie scheuchte ihre Assistentinnen unter irgendwelchen Vorwänden vom Hauptgang des Lazaretts, sodass Cress den Fremden wieder um die Brust packen und unbehelligt hindurch schleifen konnte. Die Quarantänezelle für ansteckende Krankheiten war momentan unbenutzt und lag ein paar Meter abseits des Haupthauses in einem Geräteschuppen. Als Cress die Tür aufriss, konnte sie den verboten starken Alkohol, mit dem der kleine Raum desinfiziert worden war, selbst durch ihre Maske riechen. Mit protestierenden Muskeln und inzwischen schmerzendem Rücken hievte sie den Farblosen auf die linke der drei Liegen im Raum. Kurz darauf kam Marie herein, die eine Schürze übergestreift hatte.

„Ich gehe davon aus, dass das unter uns bleiben soll?", fragte sie die Diebin, „Genau wie du deinen kleinen Ausflug eigentlich für dich behalten solltest?"

Cress Mund klappte auf und ein Schauer, der nichts mit dem Blut, das inzwischen überall auf ihrer Kleidung klebte, zu tun hatte, fuhr ihr über den Rücken.

„Woher weißt du das?", fragte sie erstickt. Marie hatte sich Handschuhe übergestreift und besah sich die Wunde genauer, nachdem sie ihre Stirnlampe aktiviert hatte. Strom gab es in dieser Hütte nicht.

„Magda hat bemerkt, dass eine Impfung fehlt."

Cress biss sich auf die Lippen. Sie hatte zu wenig Zeit gehabt, um zu planen und war nicht so überlegt vorgegangen, wie sie es gerne getan hätte, aber das hier war einfach nur Pech. Sie hatte eine Impfung gestohlen, um nicht mit einer Infektion aus dem Untergrund zurückzukommen.

„Was willst du tun, wenn er es herausfindet?", fragte die Heilerin, während sie dem Halbtoten in Windeseile eine Infusion legte.

„Ich weiß es nicht", antwortete Cress leise und erntete einen ungläubigen Blick. Es war eine Dummheit gewesen, ohne das Einverständnis ihres Gönners zu handeln. Sie musste zusehen, dass sie hier verschwand, ehe er es herausfand. Der Diebin war bewusst, dass der Kreuzbube jemand so nützlichen wie sie lieber tot sehen würde, als im Dienst einer anderen Gilde. Das große Problem an der Sache war, dass die Ungnade des Kreuzbuben dafür sorgen würde, dass das unvorstellbare eintrat: alle vier Gilden des farblosen Bezirks würden hinter ihr her sein. Cress ließ Wasser in eine Schüssel laufen, während Marie sich abwandte und mit geschickten Fingern an die Arbeit machte, ohne weiter nachzubohren.

„Ich brauche jemanden, der heute Nacht bei den Kindern bleibt", stellte Marie fest und warf Cress einen bedeutungsschweren Blick zu, „Es ist meine Schicht. Wenn du nicht willst, dass Magda von ihm erfährt, musst du die beiden Passagen bewachen." Cress widersprach nicht. Sie warf einen letzten Blick auf den Ohnmächtigen, bevor sie den Schuppen verließ. Zwar wusch das kalte Wasser des Schlauchs, der im Hinterhof endete, das dunkle Rot von den Fingern der Diebin, doch es schien immer noch an ihren Händen zu kleben, als sie in das Nebenzimmer trat.

Gabriella und Noah hatten sich auf einem der beiden Betten eng aneinander gekuschelt wie zwei Kätzchen. Die Kinder zitterten im Schlaf, ihre Finger krampften immer noch, doch nun wirkten sie fast friedlich. Alles würde sich verändern für die jungen Geister. Nebensächliches, wie der Tatsache, dass nie wieder rote Haare aus ihrer kahlen Kopfhaut wachsen würden, würde genauso erschüttert werden wie die Grundpfeiler ihres Lebens.

Was wohl ihre natürliche Haarfarbe war? Aschblond, wie Marie und Chiby, golden wie Katena, schwarz wie Cress? Vielleicht würden die Chemikalien der Passage die Kinder auch mit den viel zu früh weißen Haaren zurücklassen, die Siva Shkarah und der Kreuzbube davongetragen hatten.

Cress nahm eine dicke Wolldecke zur Hand, wickelte sich darin ein und kauerte sich auf das freie Bett, um die Kinder zu bewachen. Die Augenlider des kleinen Mädchens flatterten und für einen Moment sah Cress ihre Iris, die jetzt so rosa wie eine Nasenspitze bei Kälte geworden war. Die GrauSamkeit der Passage, das Gesicht des seltsamen Wissenschaftlers, die schneidende Stimme der Adligen und das Echo metallener Flügel wiegten Cress in einen unruhigen Schlaf.

SkythiefWo Geschichten leben. Entdecke jetzt