13 - Rote Augen

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"Kommt her", knurrte sie in ihre Atemmaske und ließ sich fallen.

Tief, tief hinein in den Strudel aus Dunkelheit, Trauer und Wut, der immer in ihrem Hinterkopf lauerte. Es war befreiend loszulassen. Zu der Dunkelheit zu werden, die sie auffraß.

Es dauerte nur wenige Minuten, bis die inzwischen nicht mehr menschlichen Wesen in einem Knäul aus funkensprühenden Kabeln, Rauch und verrottenden Körpern auf dem Boden lagen.

Sie atmete aus und legte den Kopf in den Nacken.

Das hier würde sie nicht weiterbringen. Sie würde Zeit brauchen, um Owens Tod zu verarbeiten.

Ein Geräusch, vielleicht eine der verwahrlosten Katzen, die den Hungrigen bis jetzt entkommen war, zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Mit gerunzelter Stirn spähte die Diebin tiefer in die Gasse, in der ein paar rostige Mülltonnen überquollen vor Unrat. Über ihrem Kopf spannten sich Strom- und Wasserleitungen über die Gasse, wie ein Spinnennetz aus Kabeln und Rohren. Die meisten von ihnen waren kaputt, ein paar gurgelten noch vor sich hin oder sprühten Funken. Sie konnte nur Bruchstücke des stahlgrauen Himmels zwischen den weit entfernten Dächern sehen, die viele hundert Meter über dem brüchigen Asphalt thronten. Cress kletterte über einen Schutthaufen. Sie hielt inne, als sie ein kaum hörbares Wimmern vernahm.
Das ist keine Katze.

Mit langen Schritten und immer noch mit den Klingen in der Hand, schob sie sich zwischen zwei Metalltonnen hindurch. Sie hakte einen ihrer Dolche durch den Henkel eines Mülltonnendeckels, um ihn hoch zu heben.

Verängstigte, rote Augen musterten Cress aus der Düsternis der Metalltonne. Das Kind kauerte sich noch tiefer in die Schatten, als könnte sie einfach wieder in diesen verschwinden.

Der Schatten erkannte den kahlen, kleinen Kopf sofort wieder.

Es war das zweite Kind von der Mauer, die Schwester des Jungen, den Kieran eingefangen hatte.

"Aber hallo", begrüßte der Schatten sie stirnrunzelnd und trat einen Schritt zurück. Unauffällig ließ Cress die Klingen zurück in ihre Stiefel gleiten. Ich mache ihr Angst.

"Geh weg", flehte die Kleine, lugte ängstlich über den Mülltonnenrand. Als sie ihre Hände um das Metall klammerte, fielen Cress ihre aufgeschürften Knöchel auf.
Blutig geschlagen. Der Wunsch, sie vor weiterem Leid zu bewahren, keimte in der Diebin auf.

Was war dem Mädchen geschehen? Wie hatte sie es geschafft, den Hearts zu entkommen?

Das Mädchen hatte sich gegen irgendjemanden, irgendetwas verteidigt. Wie war es möglich, dass sie alleine hier draußen überlebt hatte? Sie konnte noch nicht lange auf sich gestellt sein, sonst sähe sie mit Sicherheit noch schlimmer aus.

Cress konnte ihr Glück nicht fassen. Das zweite Kind, das Mädchen, auf das Nana sofort ein Auge geworfen hatte, weil sie so eine vielversprechende Rekrutin war, fiel ihr direkt in die Hände.

"Ich tue dir nicht weh", versicherte Cress langsam. Sie war nicht die beste im Umgang mit Kindern. Langsam ließ sie ihre Dolche sinken und hob die Hände. All der Zorn, der in ihr brannte war auf einmal wie weggeblasen, als würde dieses kleine hilflose Wesen sie aus irgendwelchen Gründen erden.

„Wir haben deinen Bruder gefunden", erklärte Cress, „Er ist bei mir und meinen Freunden in Sicherheit."

Der Schatten hatte sich in den Schmutz gekniet, jetzt auf Augenhöhe mit dem Mädchen. Tränen wallten in den blutroten Augen ihr gegenüber. Die Chemikalien hatten die Farben des Kinds noch nicht gefressen.
Sie musste Schmerzen haben.

„Geht es ihm gut?", fragte sie mit dem verlorenen Gesichtsausdruck, den jemand aufsetzt, wenn er verzweifelt versucht, nicht in Tränen auszubrechen. Cress nickte zögerlich. Dem Jungen ging es so gut, wie es einem Kind gehen konnte, das gerade von seiner Familie getrennt, durch den König zu einem leben in den Schatten verurteilt worden, mit hochaggressiven Chemikalien geimpft und den Gilden des Geisterbezirks zum Fraß vorgeworfen worden war. Dem Mädchen schien das Nicken zu reichen. Sie begann zu weinen, was Cress völlig aus der Bahn warf.
Sie tauschte hilflose Blicke mit einer streunenden Katze, die sich ein paar Meter weiter niedergelassen hatte, während die Kleine zitternd und schluchzend in die Dunkelheit ihrer Mülltonne zurücksank.

Cress klopfte ihre Jacke nach einem Taschentuch ab und fand nur eines mit eingetrockneten Blutflecken. Die Salz- und Blutschlieren auf den Wangen, des Mädchens wurden nur noch schlimmer, als sie sich mit dem Ärmel über das Gesicht wischte. Ihre Nase lief. Doch das Mädchen knurrte sie nur an, als Cress ihr das Taschentuch anbot. Der Schatten der Clubs ließ den Stofffetzen sinken.

„Ich kann dich zu deinem Bruder bringen", sagte sie nur. Die Worte trafen etwas in ihr schmerzhaft. Wann hatte sie das letzte Mal das Wort Bruder in den Mund genommen?

Sie sah sich selbst in ihr, mehr von sich, als sie sehen wollte.

Der tote Bruder.

Das Lied.

Der Kampfgeist.

Die Weigerung aufzugeben.

Die Diebin schluckte und suchte in der Dunkelheit der Tonne nach der zusammengekauerten Gestalt.

"Wie heißt du?", fragte sie irgendwann. Die Antwort kam so leise, dass Cress zweimal nachfragen musste.

„Gabriella." Die Stimme des Kindes war rau wie Schleifpapier.

„Ich bin Cress, Gabriella", antwortete die Diebin und verlagerte das Gewicht. Sie wischte möglichst unauffällig ein wenig Cyborgblut von ihrer Hand.

Die aufgeschlagenen Hände tauchten über dem Rand der Tonne auf. Das Kind setzte sich aufrechter hin, sobald sie ihren Namen aus Cress Mund hörte. Ihr Gesicht wurde in das schummrige Licht des Vormittags hier unten am Boden getaucht. Sie sah so jung aus. Wie konnte jemand wie sie ein Verbrechen begehen, dass sie zu einem Geist machte?

Der Blick der Diebin wurde weicher.

"Gabriella, ich weiß, dass du hier schreckliche Dinge gesehen hast. Aber ich denke, ich kann dir helfen."

Als Antwort spähten nur wache rubinrote Augen misstrauisch aus den Schatten. Die Rote vertraute der Farblosen nicht. Wahrscheinlich geisterten in ihrem Kopf immer noch all die schrecklichen Geschichten herum, die man ihr vor dem Schlafengehen über die Geister der Außenbezirke erzählt hatte. Dass sie nun selbst eine dieser Kreaturen werden würde, war wohl noch nicht eingesunken.

"Du hast dich verteidigt, gekämpft."

Der Schatten der Clubs nickte zu den aufgeplatzten Knöcheln des Mädchens hin.

"Wir können dir beibringen, wie du das richtig machst. Du musst lernen, wie du überlebst. Und dein Bruder ebenso."

Langsam, ganz langsam, richtete sie sich zu ihrer vollen Größe auf. Kratzern, Schürfwunden und blaue Flecken wirkten wie hässliche Farbkleckse auf ihrer Haut. Nur würde sie sie nicht abwaschen können. Die Würgmale um ihren Hals passten traurigerweise perfekt zu denen, die der erste Cyborg Cress gestern verpasst hatte.

"Was hast du davon mir zu helfen?", fragte das Mädchen.

Der Satz war wie ein Schlag ins Gesicht. Sie war klug genug, um schon nach diesem einen Tag im Geisterbezirk eine der wichtigsten Grundregeln verstanden zu haben. Niemand tat in diesem Teil der Stadt je etwas, ohne sich etwas davon zu versprechen.

"Willst du lieber hierbleiben? Alleine? Und deinen Bruder nicht wiedersehen?"

Sie schluckte, wobei ihre schlanke Kehle hüpfte. Cress Geduld war nicht unendlich. Sie verstand, dass die kleine Rote verängstigt war, doch sie würde heute Nacht nicht schlecht schlafen, wenn sie das Mädchen in den Unterschlupf der Clubs schleifen müsste.

„Nein!", bettelte das Kind dann unvermittelt, „Bitte! Ich muss auf ihn aufpassen, ich habe es versprochen!"

Das Mädchen duckte sich, als plötzlich Schritte auf der Hauptstraße zu hören waren. Seufzend kam die Diebin auf die Beine und zückte ihre Dolche, doch der Cyborg stolperte vorbei, ohne das ungleiche Paar zu bemerken. Cress warf einen Blick über die Schulter.

Gabriella war wohl zu dem Schluss gekommen, dass der Schatten ihre beste Möglichkeit war, hier noch ein bisschen länger zu überleben. Sie stieg aus ihrer Tonne.

Das Mädchen trug immer noch den Anzug, den man in der Passage bekam. Das unförmige Ding bedeckte ihre Haut von den Knöcheln bis zum Hals. Nur schmutzige Hände und aufgekratzte Füße waren zu sehen.

Sanft in sich hinein lächelnd trat die Diebin gefolgt von der kleinen Farblosen aus der Gasse heraus.

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