30 - Diamonds

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Wenn ein Kopfgeld auf einen ausgesetzt worden war, war es das Beste, sich in nächster Zeit nicht vor die Tür zu bewegen.
Erst Recht sollte man sich nicht direkt in das Hauptquartier der Gang begeben, die schon seit Jahren, ganz unabhängig von besagtem Kopfgeld, auf der Jagd nach einem war.

Männer und Frauen rauchten im Neonlicht hinter den Glasscheiben. Unauffällige Schatten und Jäger mit Tattoos und bunt gefärbten Haaren lungerten hinter den großen Fenstern des ehemaligen Kaffeehauses herum. Cress marschierte so schamlos und schnurstracks auf das Hauptquartier der Diamonds zu, als würde sie dort nach wie vor ein- und ausgehen.

Es war alles noch genau so, wie sie es in Erinnerung hatte. Die Graffiti an den Wänden waren mit grauer Farbe übermalt worden, weil der Herr der Diamonds sie nicht leiden konnte. Allerdings konnte sich keine der Gangs Glasscheiben leisten, um die großen Schriftzüge auf den Scheiben zu entfernen. Cress wusste aus eigener Erfahrung, dass die Rekruten gerne dazu verdonnert wurden, daran herum zu schrubben.

Es gab keine Wachposten vor der Tür. Die Diamonds verließen sich auf ihre Patrouillen und die Tatsache, dass es wenige Menschen gab, die freiwillig ihr Hauptquartier betraten. Im Gegensatz zum Hauptquartier der Clubs lief hier keine Musik, doch die Glücksspiele, die an den langen Tischen gespielt wurden, entsprachen einander.
In der Sekunde, in der Cress durch die Tür trat, verstummten die Gespräche an den Tischen, die ihr am nächsten waren.

„Hey!", rief jemand, „Maske runter!"

Cress trat weiter in den Raum hinein. Noch mehr Diamonds bemerkten, dass etwas nicht stimmte, während sie in der Mitte des Salons zum Stehen kam. Das dreckige Lachen erstarb auf Lippen voller Piercings, stark geschminkte Augen fixierten sich auf sie. Asche rieselte von vergessenen Zigaretten, als die Diamonds die vermeintlich Fremde taxierten, die beim Betreten des Lokals nicht ihre Schutzkleidung abgenommen hatte. An der Wand gegenüber hatte sich ein Mann mit dem Kartenkaro an der Halsschlagader von seinem Stammplatz neben der Küchentür gelöst. Der Schatten des Kreuzbuben konnte sein Gesicht nicht sehen, wusste aber sofort, um wen es sich handelte.

„Sie soll ihren Arm zeigen!", verlangte irgendjemand. Ein anderer griff nach ihr, doch Cress wich den Händen aus, als wäre sie nichts weiter als Rauch. Der Mann, der ihrem Arm gepackt hatte, landete auf dem Boden. Der ganze Raum kam auf die Beine, ein Wirrwarr aus Stimmen explodierte in der stickigen Luft. Kurz bevor sie sich auf Cress stürzten, nahm diese ihre Brille ab, ließ ihre Kapuze vom Kopf fallen. Als sie die Atemmaske von ihrem Gesicht löste, war es still geworden. Unnötigerweise zog Cress den Ärmel ihrer Jacke nach oben und entblößte das Kartenkaro, das für immer unter ihre Haut gebannt worden war. Eine mit Tinte in ihr Fleisch gestochene Erinnerung an die Gilde, die sie von der Straße geholt und großgezogen hatte. Dass sie inzwischen mehr als ein Gildentattoo auf ihrem Körper trug, war der Hauptgrund dafür, dass der gesamte farblose Bezirk sie für wahnsinnig und verräterisch hielt. Cress ignorierte die Menge um sich her, während ihr alter Bekannter sich aus den Schatten löste.

Die Diamonds sahen vollkommen still zu, wie der gutaussehende Schatten des Karobuben mit versteinertem Gesicht auf die nun Abtrünnige zukam. Die Kanten seiner Züge waren etwas härter geworden, sein kastanienbraunes Haar länger als sie es in Erinnerung hatte.
Sein Blick ging ihr durch Mark und Bein, schien sich direkt in ihre Seele zu brennen. Jedes Detail seiner Erscheinung war ihr schmerzhaft vertraut. Cress lächelte nicht, als sie die Arme vor der Brust verschränkte und seinem fassungslosen, zutiefst wütenden Blick standhielt.

„Hallo, Dice", grüßte sie ihren Ex-Freund. Zur Antwort drehte er ihr mit einem einzigen Griff die Arme auf den Rücken und schob sie grob aus dem Raum. Die Diebin wehrte sich nicht, als seine Finger sich in ihre Arme bohrten. Sie war genau dort, wo sie hinmusste. Cress konnte hören, wie die Diamonds zu tuscheln begannen, bevor die Tür hinter ihnen zu schlug. Das einst weit über die Reviergrenzen des Karobubens berüchtigte Paar verschwand in den Tiefen des Hauptquartiers.

~

Der Herr der Diamonds sah von seinem Schreibtisch auf, als Dice Cress in den Raum zerrte. Obwohl er schon lange nicht mehr jung war, sah der Karobube immer noch gut aus.
Er war groß und schlank, wie alle Diebe der Gilde, hatte schütteres Haar und vom Alter blasse Augen. Falten zogen sich durch sein Gesicht wie unsaubere Schnitte und an seinem Hals war eine neue Narbe erschienen, die Cress nicht von früher kannte. Der Karobube hatte fast genauso viele Narben wie Namen, alle gesammelt in seiner Karriere als Verbrecherfürst der Diamonds.

Ein Moment der Überraschung verstrich, bevor er ihr bedeutete, sich zu setzen.
Es tat weh wieder hier zu sein. Doch es war nur ein weiteres unmögliches Ereignis, das sich nahtlos in die der letzten Tage einfügte.

Cress ließ sich in seinem Arbeitszimmer auf den roten Sessel vor dem Schreibtisch fallen, schlug die Beine übereinander und lehnte sich scheinbar völlig entspannt zurück. Das letzte, was sie tun würde, war zuzugeben, dass es sie tiefer getroffen hatte, an diesen Ort zurückzukehren und diese bekannten Gesichter wiederzusehen, als sie gedacht hatte. Der Karobube legte die langen Finger aneinander, sodass ein matter, dunkler Ring aus Obsidian sachte aufschimmerte. In kunstfertigen, schmalen Linien war das Karo der Gilde darauf eingraviert worden. Der Ring der Diamonds. Jahrelang war Cress darauf fixiert gewesen, ihn irgendwie in die Finger zu bekommen und damit zur Nachfolgerin des Karobubens ernannt zu werden. Doch sie hatte es nie geschafft, ihn zu bestehlen. Die meisten hatten es nicht einmal versucht.

„Wie ich sehe, hast du immer noch keinen Protéger", Cress nickte grob in Richtung des Rings. Ein schmales unehrliches Lächeln erschien auf den Zügen des Karobubens.

„Ich hatte einen Protéger", antwortete der Herr der Diamonds, „der wie vom Erdboden verschwunden ist, nur um ein paar Wochen später zum Schatten meines Erzfeindes ernannt zu werden."

Cress nahm die Beine von der Lehne des Stuhls, während der Mann, der sie persönlich von den Straßen gepflückt hatte, sein rattenzerfressenes Buch, in dem er alle Aufträge seiner Gilde dokumentierte, zuschlug. Hatte er Angst, dass sie etwas darin las, das nicht für ihre Augen bestimmt war? Ihr eigener Name war unzählige Male auf diesen Seiten verewigt worden. Er nahm seine Lesebrille ab und legte sie feinsäuberlich neben das Buch.

„Was willst du hier, Cress? Und was lässt dich denken, dass du diesen Raum je wieder verlässt?"

Sie war sich durchaus bewusst, dass Dice immer noch bei der Tür stand, alles hörte und sah.

„Schick deinen Schatten hinaus und wir können reden."

Der Karobube lächelte sein schmales, unterkühltes Lächeln.

„Gib meinem Schatten deine Waffen und er wird gehen."

Ein ruhiges „Ich denke nicht ..." von hinter Cress überging der Herr der Diamonds mit einer Handbewegung. Beim Klang von Dices Stimme krallte sie die Finger in das Leder des Sessels.

„Tut euch keinen Zwang an", sagte der Schatzmeister, lehnte sich zurück und wartete geduldig auf das Schauspiel, das sich vor seinen Augen entfalten würde.

Jemand trat hinter sie. Nicht jemand. Er.

SkythiefWhere stories live. Discover now