66 - Dunkelheit

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Julian spielte seit zwei Stunden Klavier. Seine Finger waren noch blutig vom letzten Mal, als er mit einem der Soldaten in den Boxring gestiegen war. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, das Blut abzuwaschen, nicht einmal, bevor er sich an die schneeweißen Tasten setzte. Jeder, der ihn kannte, hätte spätestens jetzt angefangen, sich Sorgen zu machen.

Die Diebin lehnte im Türrahmen,

Sie hatte seinen Alkohol versteckt.

Er hatte nicht die Nerven, ihn zu suchen. Klavierspielen war genauso gut.

Sie redeten nicht, während er eine Chopin Nocturne nach der anderen spielte. Musik war so perfekt. Wieso konnte die Welt nicht mehr Musik in sich tragen?

Und wieso fühlte er sich, als müsste er sich vor ihr erklären?

Als müsse er sie um Verzeihung bitten, dass er seinen Vater gerettet hatte. Als müsse er für so vieles um Verzeihung bitten. Aber das würde nichts davon besser machen.

Vergebung war eine Reaktion auf Katastrophen. Sie macht den Schaden nicht rückgängig, sie machte ihn erträglich. Und das wollte er nicht. Er wollte jedes bisschen davon fühlen, weil er es verdient hatte, zu leiden.

Aber er wollte auch mit ihr reden. Er wollte in diesen schrecklich schönen Himmelsaugen ertrinken. Er wollte in ihrem Arm an einem einsamen Strand einschlafen, an dem sich die Welt nicht ganz so kaputt anfühlte.

Also ließ er irgendwann den letzten Ton verhallen. Nahm die Hände von den Tasten. Holte Luft.

„Du verstehst nicht, warum ich es getan habe", es war keine Frage, sondern eine Feststellung, „Warum ich ihn gerettet habe."

Die Stille war noch lauter, nachdem er so lange Klavier gespielt hatte.

„Mein Vater war nicht immer so, Cress Cye. Er war einmal gütig, sanft, liebevoll. So, wie Väter eben sein sollten. Er hat zwar eine Amme eingestellt, aber nie vergessen, nach Dominique und mir zu sehen, als wir klein waren. Das tun Könige nicht. Er hat es trotzdem getan."

Der Siegelring an seinem Finger blitzte auf.

„Macht verändert Menschen. Immer. Aber eine Veränderung ist nie absolut. Deswegen hasse ich den dunklen Teil von ihm. Aber den Mann, der seinen Kindern selbst das Reiten beigebracht hat, werde ich nicht vergessen. Und ich fürchte ich werde ihn immer lieben."

Er drehte den Kopf, sah sie an, aber sie sah ihn nicht an.

„Ich weiß, dass er dir etwas schreckliches angetan haben muss. Aber das war Recht, Cress. Keine Gerechtigkeit. Recht. Du kannst ihn dafür verantwortlich machen, du kannst ihn umbringen, aber das ändert gar nichts. Du suchst Rache. Keine Gerechtigkeit. Wenn er stirbt, werde ich gekrönt. Und ich werde mich auch an das Recht halten müssen. Es ändert nichts."

Sie hob den Kopf und was er für Scham gehalten hatte, entpuppte sich als sengende Wut.

„Das, was er meiner Familie angetan hat, war kein Recht, Julian. Wenn du so darüber sprechen kannst, dann kennst du meine Geschichte nicht. Es hat sich jemand die Mühe gemacht, die Spuren zu verwischen. Und das allein sollte dir zu denken geben."

Er starrte auf seine blutigen Knöchel, während sie ging.

Er spielte weiter Klavier, ein Stück nach dem anderen, immer schwerer, immer schneller. Er hätte nicht so mit ihr reden dürfen. Aber entschuldigen konnte er sich auch nicht. Nicht jetzt, wenn der Ausdruck in Mays Augen noch so deutlich vor seinem inneren Auge stand. Stählerne Entschlossenheit. Brennender Hass. Tiefe Trauer um ihren Bruder.

Er war zu einem Monster geworden. So tief versunken in seine Lügen, dass er kein Tageslicht mehr sah. Wenn auch nur ein einziger seiner feinsäuberlich gesponnen Intrigenfäden reißen würde, würde er in der Dunkelheit ertrinken. Alleine, weit weg vom Lachen der Diebin.

SkythiefWhere stories live. Discover now