81 - Mörderin

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Sie hatte das nicht gewollt.

Und trotzdem tat es ihr nicht leid. Mays durchschossenes Herz schlug langsam und schwer wie eine Standuhr.

Aber es schlug, konnte gar nicht aufhören damit.

Denn jetzt war es bewiesen: Sie war eine Hohe, unsterblich für 100 Jahre. Unantastbar.

Vielleicht stand sie deswegen aufrecht da und konnte ihren Blick über jedes einzelne der versammelten Gesichter wandern lassen.

Erst, als sie den Blick ihrer Mutter traf, stockte sie.

Aber nur für einen Moment.

Cesia Silencia war erschüttert.

Sie hatte wahrscheinlich eine Katastrophe erwartet, sie war schließlich von Natur aus Pessimistin. Aber das hier – May, blutüberströmt, einen faustgroßen Caz Kristall in der Brust, neben Julian Alessandrini – das hatte sich nicht einmal Cesia in ihren schlimmsten, potentiellen Szenarien ausgemalt.

„May!"

Ihre Mutter bahnte sich seinen Weg durch die Menge. Wieso kam sie aus Richtung des Gerichtssaals?

Sie war verwirrt, besorgt und geschockt, wie der Rest des Ordens. Die anderen begannen sich zu rühren, zu murmeln, während May stumm dastand.

Scharfes Zischen in der Menge.

Die Knochenschwestern erstickten die Unruhen.

Corria packte Mays Mutter und hielt sie zurück, als ob es ihre leichteste Übung wäre.

Erst jetzt bemerkte sie, dass Julians Blick auf ihr lag.

Sie sollte diejenige sein, die es ihnen sagte.

Aber das konnte sie nicht.

Miaserus Alessandrinis Sohn war der einzige Fleck blau in einem Meer aus lila und weiß.

„Der König ist tot."

Er wirkte so ruhig, so gelassen. Äußerlich zumindest.

Seine Hände zitterten und er verschränkte sie hinter dem Rücken. „Versucht nicht, uns aufzuhalten. Kein Blut mehr."

Seine Eloquenz war durch einfache Ansagen ersetzt worden.

Die Menge drückte vorwärts, Cesia Silencia schrie und May war taub geworden für alles und jeden. Cesia hatte es gewusst. Sie war bei der neuen Hohen im Gerichtssaal gewesen.

Sie konnte nicht zu ihrer Mutter gehen, konnte ihre Mutter nicht umarmen.

May hatte jemanden getötet.

Das alles hier – sie verdiente es nicht mehr.

Sie wäre wohl einfach dort stehen geblieben, wenn Julian nicht nach ihrer Hand gegriffen hätte.

Denn sie musste hier weg, wenn sie nicht selbst vor dem hohen Gericht landen wollte.

Vor dem Gericht von Julians für hundert Jahre unsterblicher Schwester.

Cheleste, Corria und Alcha bahnten ihnen einen Weg durch die Menge, verschwommene Gesichter und Hände vor Mays Augen.

Der Blick ihrer Mutter hatte sich in ihren gebrannt, auch wenn sie sie nicht mehr sehen konnte.

Cesia Silencia kämpfte wie eine Wilde, um zu ihrer Tochter zu gelangen.

Ihre Tochter hatte etwas unglaublich Dummes getan.

Es war wohl die erste echte Dummheit in Mays Leben, aber wenn sie nicht bald hier herauskam, dann würde es auch ihre letzte sein.

Mörder.

Sie würden sie in Ketten aus Caz Kristallen legen und vor den Richtertisch ziehen wollen, neben dem die Madame und der oberste Ratsherr gestorben waren.

Mörder.

Aber sie konnte diese Ketten sprengen.

Eine Hohe, die höchste Instanz der Rechtsprechung, beging selbst ein schreckliches Verbrechen.

May sah und fühlte die Welt wie durch Fieberglas.

Das einzige, was sie wirklich spürte, war Julians Hand und der stechende, übelkeiterregende Schmerz in ihrer Brust.

Sie flehte nicht um Vergebung, sie weinte nicht.

Seine Eltern waren tot, bei den Sternen, sie hatte seine Mutter umgebracht.

Und trotzdem zog er sie weg von der Menge, durch die Türme und über die gläserne Brücke.

Die Höhe schien so viel weniger bedrohlich.

Vielleicht, weil sie gar nicht mehr tiefer fallen konnte.

Cesia Silencias einzige Tochter, die Schülerin der letzten Hohen, Rya Hora, und rechtmäßige Hohe des Ordens der edlen Dämmerung, floh mit einem zerschossenen Herzen aus den zwei Türmen.

SkythiefWo Geschichten leben. Entdecke jetzt