88 - Götter

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Sternschuld, dieser Tag war ein Albtraum.

May war gefesselt, blind und im Nachthemd durch die Straßen der letzten Stadt gezerrt worden und erst als ihre Füße nachgaben und sie im Staub der Straße landete, zog man ihr den Sack vom Kopf.
Es war der Anführer. Braunes Haar, kühle Augen, gutaussehendes Gesicht.

„Was ist los mit dir?", fragte er schroff, während sie zusammengesunken vor ihm kniete, die Hände gefesselt.

May hob langsam eine Augenbraue.

„Ich wurde erschossen", sagte sie mit schleppendem Sarkasmus.

Inzwischen war ihr alles egal. Sollte der Kerl sie doch zusammenschlagen. Sollte er sie doch gefangen nehmen. Schlimmer konnte es jetzt nicht mehr werden. Irritiert musterte der Anführer ihren Kopf, ihren Oberkörper, schüttelte dann den Kopf.

„Hier trägt dich niemand."

Er reichte ihr eine Wasserflasche. „Also steh auf, oder wir schleifen dich weiter." 

Sie trank, schickte tödliche Blicke zu ihm hinauf, setzte die Flasche ab und hustete. Sie war am Ende. Jeder Muskel in ihrem Körper zitterte vor Erschöpfung.

„Sie wurde wirklich erschossen", merkte einer der Soldaten von hinter ihr an.

Sie hatte keine Ahnung, wie die beiden Grünen hießen, die Julian bei ihr gelassen hatte. Besonders intelligent waren sie nicht und besonders hilfreich waren sie auch nicht gewesen, als der unfreundliche Kerl und die anderen Schläger sie gefangen genommen hatten. May trank noch einen Schluck. Hatte es denn keine anderen Leute für diese Aktion gegeben?

Der Anführer warf ihr einen fragenden Blick zu. Selbst seine fragenden Blicke waren unfreundlich. Wie schaffte er das nur? Sie sah es in seinem Kopf arbeiten, dann kam er ohne lange vorzuwarnen auf sie zu, ging in die Hocke und zog den Reißverschluss ihrer Jacke auf.

May hätte ihn anschreien können, hielt aber still und warf ihm einen ebenfalls spöttischen Blick zu, als er sein Zurückzucken vor ihrer blutüberströmten Brust als hastiges Aufstehen tarnte. Wohl doch kein so harter Kerl. Er warf ihr einen verstörten, stirnrunzelnden Blick zu, den sie kühl erwiderte. Sie konnte auch auf Menschen hinunterschauen, wenn sie vor ihnen kniete.

„Jeff", bellte der Anführer.

Sekunden später hatte einer der breiteren Kerle May über seine Schulter geworfen. Ihr kurzes Kleid war noch weiter nach oben gerutscht. Gelächter. Sie biss sich auf die Lippe. Es war erniedrigend.

„Dice, Siva wird bald an den Toren sein", meldete ein anderer, der außerhalb von Mays jetzt ziemlich begrenztem Blickfeld stand.

Der Anführer trat vor sie, und sie warf ihm einen letzten wütenden Blick zu, bevor er ihr den Sack über den Kopf zog.

Dice also. May buchstabierte seinen Namen, verdrehte die Buchstaben und dachte sich einen Verschlüsselungscode aus, der darauf beruhte, während die Farblosen sie immer tiefer in den gesetzlosen Bezirk hineinbrachten. Einfach, weil es so viel besser war, als sich Sorgen um ihre Familie zu machen.

Sich die Dinge vorzustellen, die ihnen geschehen könnten.  Es war egoistisch gewesen, Julian zu retten. Sie hatte nicht eine Sekunde an ihre Mutter gedacht. May hatte alles aufgegeben, weil sie nicht mehr stillhalten konnte. Sie hätte sich ohrfeigen können. Ohne, dass sie es bemerkt hatte, war Julians Traum zu ihrem eigenen geworden.

Hatte er das so geplant? Mit Sicherheit. Und er hatte sie so nachhaltig manipuliert, dass sie selbst jetzt noch davon überzeugt war, das Richtige getan zu haben.

Stundenlang drückte die Schulter des Mannes, der sie trug, in ihren Magen. Aber zumindest musste sie nicht mehr laufen.

Das bisschen Herz in ihrer Brust, das der Wahrheitsstein zusammenhielt, schmerzte mit jeder Minute mehr. Der hasserfüllte Code, den sie aus der Abfolge der Buchstaben in Sams Namen entwickelt hatte, verblasste immer mehr.

SkythiefWhere stories live. Discover now