89 - Prinz und Greis

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Als sie Cress zu ihm in die Zelle brachten, trug sie frische Kleider und roch nach Desinfektionsmittel.

Er griff nach der Hand der Diebin.

Ihre Lippen waren aufgesprungen und sie war blass, als ob sie doch tot wäre.

Aber das war sie nicht.

Genauso wenig wie May oder er selbst.

Sie hatten diesen absolut schrecklichen Tag überlebt.

Sie alle.

Und er konnte nicht anders, als sich die Bestätigung zu holen, dass ihre Hände noch warm waren.

„Man hat ihr das Gegengift verabreicht", erklärte einer der Farblosen.

Julian wandte sich ihm zu.

„Wer auch immer Ihr seid, ich danke Euch."

Der erste Mann verzog keine Miene und schon waren sie wieder verschwunden.

Julian ließ sich gegen die Wand sinken, fuhr mit dem Daumen über das bisschen Haut an Cress Hand, das nicht bandagiert war.

Er blinzelte in die Düsternis und versuchte zu verarbeiten, was in den letzten Stunden passiert war. Momente, die ihn den Rest seines Lebens prägen würden, zogen erneut vorbei.

Er war so müde.

Plötzlich merkte er auf. In den Schatten der Zelle neben ihnen, bewegte sich etwas.

Seine Atmung beschleunigte sich, als die Angst ihn traf wie eine Welle.

Die Knochenschwestern hatten ihn also doch gefunden.

Aber als er weiter in die Finsternis starrte, tauchte nicht Chelestes schönes Lächeln aus der Dunkelheit auf.

Natürlich, er hatte sich mit den Nocturna Drillingen betrunken, aber es war klar, dass ihre Loyalität zum Orden über ihrer Freundschaft zu Julian stand.

Freundschaft?

Wohl eher weniger, ‚hassarme, ironielastige Beziehung voller Sticheleien' würde es wohl besser treffen.

Ein alter Mann tauchte aus der Dunkelheit auf.

Schütteres Haar, das flaumig vom Kopf abstand, umrahmte ein von Narben übersätes, hohlwangiges Gesicht.

Er wäre wohl groß gewesen, beeindruckend, wenn er nicht so gekrümmt dagesessen wäre.

Wenn er nicht so dünn gewesen wäre, so schwach und alt.

Und doch ...

Die milchigen Augen, die Narben, die langen Finger und das Lächeln, mit dem er sich aus den Schatten schälte wie aus einem dunklen Umhang, veranlassten Julian dazu, sich aufzurichten.

Dieser Mann war gefährlich.

Nicht jetzt, nicht mit den Eisenringen um seine Handgelenke und so geschwächt, dass man förmlich jeden Knochen durch das schmutzige Hemd sehen konnte, aber er war es gewesen.

Und sein Geist war immer noch derselbe.

Er war nah.

Nur die rostigen Gitterstäbe trennten ihn von Julian und der bewusstlosen Diebin.

Der Alte müsste nur die Hand ausstrecken, um seine Finger um Julians Kehle zu legen.

Dieser rief sich zur Ruhe und musterte sein Gegenüber.

„Ah", machte der Alte, ließ sich gegen die feucht schimmernde Wand sinken und zog die Knie an.

„Ihr seht genauso aus, wie auf den Screens. Und ich dachte immer, das wäre geschminkt und nachbearbeitet."

SkythiefWhere stories live. Discover now