57 - Vor einem Abendessen

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Julian d'Alessandrini-Casanera zettelte anscheinend nicht nur gerne Himmelfahrtskommandos an, er spielte genauso gerne Darts. Dabei hörte er Diskomusik und philosophierte vor sich hin. Gelegentlich hielt er inne, noch mit einem Pfeil in der Hand, ging zur Fensterbank und machte sich ein paar Notizen.
Cress war nicht im selben Raum mit ihm, konnte aber das Aufprallen der Dartpfeile hören und die Fensterbank sehen. Gelegentlich warf er einen Blick in ihre Richtung und fand sie jedes Mal vertieft in eines seiner Bücher.

Sie hatte noch nie so viel gelesen, wie in den letzten Tagen, die sie in Julians Suite verbracht hatte. Am Anfang war sie sehr langsam gewesen und hatte Buchstaben verdreht, weil sie es seit Jahren nicht mehr wirklich versucht hatte, doch inzwischen funktionierte es besser denn je. In den deckenhohen Bücherregalen in seinem Klavierzimmer lagerten hunderte von Büchern. Gedruckte, zerknickte, billige Bücher neben ein paar handgeschriebenen Folianten. Die Regale, die sie sich bisher angesehen hatte, enthielten Abhandlungen über Recht, Staat und Militär. Ein paar Geschichtsbücher hatten ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Denn Geschichtsbücher gab es in den Außenbezirken nicht. Keiner hatte die Zeit, das Geld oder die Muse sich mit lange vergangenen Königreichen zu beschäftigen, wenn man andauernd in Lebensgefahr schwebte.
Nicht, dass sie im Moment nicht auch in Lebensgefahr schwebte.

„Was liest du da?"

Sie sah auf. Er hatte ihr nicht offiziell erlaubt, seine Bücher anzufassen, aber auch nicht protestiert, als sie es getan hatte. Immerhin war sie hier eingesperrt und hatte relativ wenig zu tun.
Cress kippte das Buch, sodass er den Titel lesen konnte.

„Die Kunst des Krieges?", fragte Julian und legte sein Notizbuch auf das Kaminsims, „Es gibt Bücher, die deutlich mehr Spaß machen."

Er streckte den Arm aus und deutete auf einen Regalabschnitt.
„Da oben stehen die Romane."

Sie hob beide Augenbrauen.
„Ja", meinte Cress langsam, „Da oben stehen die Romane."
Er blinzelte.
„Außer Reichweite", setzte sie hinzu.
Der Kronprinz musste lachen.

„Bittest du mich, dir einen Roman zu geben?"
„Habe ich das?"
Schalk tanzte in seinen Augen. „Nein."
„Eben."
Demonstrativ hob sie „Die Kunst des Krieges" und begann wieder zu lesen. Der Kronprinz war milde amüsiert, als er sein Jackett vom Klavier hob.

„Cress Cye, ich glaube, ich habe eine Idee. Oder auch zwei."
Sie sah auf und löste ihre linke Hand von dem Buch, um eine Abwehrgeste gegen das Böse zu machen.
„Nicht schon wieder."
„Sie werden dir gefallen", versprach er.
„Ich laufe also nicht Gefahr, draufzugehen?"
Julian rieb sich unangenehm berührt das Kinn.
„Großartig", murmelte sie.

Er nahm die Platte aus dem Plattenspieler, ließ sie in die Hülle gleiten und legte sie auf den Stapel zurück, bevor er sich auf einer Couch niederließ. Zwei seiner Kätzchen bemerkten das sofort und machten es sich auf seinem Schoß bequem.
Immer noch hing sein vielsagender, nachdenklicher Blick an ihr. Genervt und zunehmend misstrauisch sah sie auf und fragte:
„Was?"

„Nichts", er kraulte eine der Katzen genießerisch unter dem Kinn. Das Tier schmiegte sich in seine Berührung und begann leise zu schnurren.
„Du magst Musik, richtig?"
Jetzt war sie damit an der Reihe, verwirrt zu blinzeln. Einen Moment lang herrschte Stille.
Dann: „Nein", entgegnete sie, „Ich kann mit Musik nichts anfangen."

Ergeben nickte Julian und sie wollte plötzlich das Buch aufschlagen und sich dahinter verstecken. Selbst in ihren eigenen Ohren hatte sie nicht glaubwürdig geklungen.
„Schön. Zufälligerweise findet übermorgen das größte musikalische Spektakel des Jahrhunderts statt. Ich bin selbstverständlich eingeladen und da meine Ehefrau sich gerade mit ihren Eltern bekriegt, hat sie freundlich wie immer", er wirkte nicht ganz ernst, „darum gebeten, sich statt dorthin zu gehen hier verstecken zu dürfen. Ich kann dich nicht mit ihr alleine lassen. Ich muss dich irgendwo anders verstecken, während ich nicht da bin."

SkythiefWhere stories live. Discover now