55 - Treue

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„Sie lebt."

May sah leichenblass von ihrem Laptop auf.
„Was?"

Sie konnte selbst hören, wie tonlos ihre Stimme klang, während Ricks Worte durch ihren Kopf rauschten und dabei ihre Bedeutung entfalteten. Ungläubig starrte sie den roten Wissenschaftler an, der am Tresen im Aufenthaltsraum der silbernen Studenten stand und ihren Blick genauso fassungslos erwiderte.

„Sie lebt?"
Doch da sah sie die Nachricht am Rande ihres Bildschirms aufleuchten, schnappte nach Luft und schlug sich die Hände vor das Gesicht. Sie musste so vertieft in die wunderschönen Zahlenreihen gewesen sein, die ihr als Ablenkung gedient hatten, dass sie es zuerst nicht gesehen hatte.
May hätte weinen können.
Sie fiel auf die Seite und starrte an die Decke, während ihre Hände unkontrollierbar zu zittern begannen. Die Haut um ihre Nägel brannte, weil sie so lange daran gezupft hatte, bis ihre Fingerspitzen rot und blutig waren. Die Gewissheit pulsierte in ihr wie eine Droge, die ihre Systeme alle auf einmal herunterfuhr. Sie war so unsagbar müde auf einmal.

Rick ließ sich neben ihr auf die Couch sinken, ganz vorsichtig, und hielt ihr eine der beiden Kaffeetassen hin, die er gerade scheinbar aus dem Nichts herbeigezaubert hatte. Vielleicht hatte May es aber auch einfach nicht mitbekommen, als er den Kaffee gemacht hatte. Schließlich stand sie unter Schlafentzug, war vollgepumpt mit Adrenalin und hatte seit mehr als zehn Stunden nichts mehr gegessen. Und das würde sie wahrscheinlich auch in nächster Zukunft nicht tun, denn alleine bei dem Gedanken hätte sie sich fast auf den Teppichboden übergeben.

Rick bettete ihren Kopf auf seinen Schoß und beugte sich über sie. Er sah viel zu alt aus.
Sie hasste es, Illegales zu tun, stellte sie fest.
Sie hasste das Adrenalin und die Angst, erwischt zu werden.
Wieso tat man so etwas? Es war so viel einfacher sich an die Regeln zu halten. Und ganz nebenbei riskierte man dabei nicht sein Leben.

„Wir haben das tatsächlich durchgezogen", lachte er, um die Stimmung aufzulockern.
Sie schüttelte nur den Kopf, während Rick eine der krausen Haarsträhnen zwischen den Fingern drehte, die sich aus ihrer ansonsten immer tadellosen Frisur gelöst hatten.

Dann schoss May in die Höhe.
„Nein, das haben wir nicht", sie stand auf, klappte ihren Laptop zusammen und ging zur Bar hinüber. Das bunte Licht der Flaschen strich über ihre große, dünne Silhouette. „Und weißt du auch, wieso? Weil sie die Formel verloren hat. Es ist unmöglich, dass sie sie noch bei sich trägt. Sie hatte die Disc in der Hand."

Rick zuckte die Schultern und stand ebenfalls auf. Er wirkte erstaunlich wenig betroffen. Es musste alles zu viel für ihn sein. Natürlich war es das. Dieser Mann kannte nur Labore und die blank polierten Hörsäle.
„Ist es nicht die Hauptsache, dass sie überlebt hat?"

May sah ihn an. Und für einen Moment fühlte sie sich schuldig, weil sie nicht seiner Meinung war. Dann klang die Schuld ab und sie war sich sicher, dass sie der schlechteste Mensch auf dieser Welt war. Denn ja, es war schön, dass die Farblose noch lebte. Obwohl sie unfreundlich, laut und gefährlich war. Aber in dieser Nacht war es nie um sie gegangen.
Denn die Daten auf der Disc entschieden über das Leben oder Sterben von so vielen Menschen. So viele Herzen, die zu schlagen aufhörten. So viele Augen, die stumpf wie trübes Glas werden würden. Sie hatten es nicht geschafft. Sie hatten versagt.

May öffnete ihren Laptop, als ein leiser Signalton eine weitere Nachricht ankündete. Ricks Laptop lag neben ihrem, aber er macht keinerlei Anstalten, danach zu greifen, sondern trank seinen Kaffee und starrte aus dem Fenster.
Sie öffnete die Datei, die ihr der Kronprinz geschickt hatte. Und wurde leichenblass.
So schnell wie möglich, Silencia. Sofort. Es steht alles auf dem Spiel. Bitte SOFORT zurückschicken – J.A.

SkythiefWo Geschichten leben. Entdecke jetzt