41 - In der Höhle des Löwen

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Sie hörte wie die Schritte der Wachposten schlagartig leiser wurden, als diese in einen angrenzenden Gang abbogen.
Dann zählte sie.
Zehn Sekunden, bis sie wieder um die Ecke gebogen waren, zehn weitere, bis sie erneut die Tapetentür erreichten. Zehn Sekunden.
Verdammt wenig Zeit.

Zweimal öffnete Cress die verborgene Tür zu den Dienstbotengängen einen Spalt, um sich ein Bild von ihrer Umgebung zu machen.
Zehn Sekunden, um hineinzukommen, höchstens ein paar Minuten in der Suite, zehn Sekunden, um wieder mit dem Schwert des Sternenpredigers in den Gängen zu verschwinden.
Viel zu wenig Zeit.

Sie hastete die paar Meter zu der Tür hinüber, streckte die Hand aus und hatte sich schon darauf eingestellt, das Schloss knacken zu müssen. Doch die Tür war gar nicht verschlossen, sodass sie halb in den Raum hineinfiel.
Das konnte nichts Gutes bedeuten.
Irgendetwas war falsch.
Zu einfach. Stimmte nichts.

Sie starrte das dunkle Holz einen Moment lang an und erwartete halb, dass die Wachen ihr nachkommen würden. Dass sie geradewegs in eine Falle getappt war. Aber es rührte sich nichts. Die Suite war dunkel und leer.

Cress Kehle war eng geworden.
In diesem Palast geschahen seltsame Dinge.
Sie verstand es nicht, wollte hier nur so schnell wie möglich wieder weg.

Langsam wandte sie sich dem Raum zu, der sich kreisrund und blau erleuchtet vor ihr erhob. Irgendetwas zog sich in ihr zusammen, als sie bemerkte, dass der Fußboden aus Glas bestand.
Von unten prasselten lautlos Wasserfontänen dagegen.
Der Raum war groß, kam ihr aber neben dem Ballsaal geradezu winzig vor.
Ein Schreibtisch aus schwerem Holz stand an der gegenüberliegenden, von hohen Spitzbogenfenstern, die auf den mondbeschienenen Park hinaus gingen, durchzogenen Wand.
Das alles nahm sie in einem Atemzug wahr, neben der Tatsache, dass das Schwert nicht in diesem leeren Raum versteckt sein konnte.

Zwei Türen standen ihr zur Auswahl.
Cress Puls war das Einzige, was sie in dieser seltsam gedämpften Stille hörte.
Sie hatte schwarze Handschuhe übergestreift, die dünn wie Spinnenweben und schwarz wie Rabengefieder mit ihrer bemalten Haut verschmolzen, denn es würde natürlich sehr unauffällig sein, überall blaue Handabdrücke zu hinterlassen. Sie war mit zwei langen Schritten bei der Tür und fuhr dabei auf der Suche nach Unebenheiten mit den Fingern an der Wand entlang. Doch sie fand kein Geheimfach in der Natursteinmauer und auch keine verborgene Tür. Während ihrer Zeit bei den Silberdieben war sie die Beste im Finden von Dingen gewesen, egal ob sie eingemauert oder in einem zehn Meter tiefen Becken versenkt worden waren. Das einzige, was sie nicht geschafft hatte, war den Halbmondring des Schatzmeisters zu stehlen.

Feuerschein erwartete die Diebin, als sie die Tür einen Spalt breit aufdrückte. Cress zuckte zurück. Denn mit dem Feuerschein drang die Musik eines Klaviers aus dem Zimmer.

SkythiefWhere stories live. Discover now