59 - Mensch unter Menschen

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Die Menschen starrten sie an.
Die Blicke der Adligen brannten wie in Säure getunkte Nadeln, als Cress und Julian den von Lampions erhellten Weg zum Abgrund hinüber gingen. Zu der Klippe von der sie gesprungen war. Niemand sonst hätte das getan. Sie hatten Armeen, hochentwickelte Technologie und die Achlysformel, doch wenn Cress hier und jetzt einem von diesen Politikern an die Gurgel gehen würde, dann würden sie sterben, wie die Fliegen. Die Farbe ihrer Gedanken passte hervorragend zu der ihres Kleids.

Als Julian ihr seine Hand reichte, um ihr das Einsteigen in einen der Wagons zu erleichtern, die sie über die Schienen mitten in das Herz des heiligen Berges bringen sollten, zitterten ihre Hände. Wenn sie vor ein paar Nächten Pech gehabt hätte, hätten sie ihren zerschmetterten Körper von genau diesen Gleisen kratzen müssen. Durch die Fenster des Wagens konnte sie den sanft schimmernden, großen See weit unter sich erkennen, der sie vor dem fatalen Aufprall bewahrt hatte.
Die Laureline Oper wurde in einem Teil des Caz Kristall Berges aufgeführt. Als sie durch die Tunnel aus sanftem, weißem Licht fuhren, erinnerte Cress sich daran, wie sie das letzte Mal hier gewesen war.
Es war ein anderer Teil des Berges gewesen, eine echte Miene. Inzwischen musste die Hohe sich einen neuen Sarg geformt haben, sonst würden sie in ein paar Wochen ein Problem haben.

Der hohe Orden hasste Cress bis auf das Blut. Und hier war sie, im Herzen der Sternreligion der letzten Stadt, auf dem Weg zu etwas, das farblose Augen niemals sehen sollten.
Jeden Moment könnte Julian sie verraten.
Doch das würde er nicht tun, alleine schon, weil es ihm gefiel, die Regeln zu brechen und seinen Vater zu blamieren, ohne dass dieser überhaupt davon wusste. Deswegen hatte er sie in erster Linie mitgenommen. Um seine kleine Rebellion ausleben zu können.

Doch die Beweggründe des Kronprinzen könnten sie gerade nicht weniger interessieren. Die Diebin war aufgeregt, hätte auf und ab hüpfen können vor Vorfreude und machte sich gleichzeitig Sorgen, dass diese Unternehmung schief gehen würde. Es war das Dümmste, das sie im Kern tun könnte. Das Schlimme war nur, dass ihr die Chance darauf, die Oper zu sehen, das Risiko tausend Mal wert war.
„Kinn hoch, Brust raus und jedem in die Augen sehen", flüsterte der Kronprinz, „Und es wäre mir eine Ehre, wenn du nun so tun könntest, als hätte ich dir einen hervorragenden zweideutigen Witz erzählt, damit sie nicht misstrauisch werden."

Cress kicherte leise und versteckte ihren Mund schüchtern hinter ihrer Hand.
„Wunderschön, Liliane van Laurence", hauchte Julian spielerisch den Decknamen, den er ihr aus den Stammbäumen des Exiladels ausgegraben hatte.
„Hör' auf, mich anzuatmen", forderte sie.
Er zog sich immer noch gut gelaunt zurück.
„Freust du dich schon, Liliane? Oder darf ich dich Lili nennen?", fragte der Kronprinz.
„Keine Chance. Warst du nicht gerade dabei, mir wertvolle Tipps zu geben, damit ich mich nicht verrate?"

Er neigte leicht den Kopf und der Schatten der Krone legte sich über seine Augen.
„Du wirst dich nicht verraten. Die Damen werden dich als Schwiegertochter wollen. Die Männer werden dir hinterherstarren, fragen, ob du schon verlobt bist. Bevor sie realisieren, dass du mit mir hier bist natürlich", fügte er flüssig an. Sie war zu abgelenkt, um angemessen ironisch auf die Bemerkung zu reagieren. Ein Wackeln lief durch den Wagon, als sie anhielten. Der Kronprinz stand auf. Als sie ihm folgte und sie sich wieder nah genug waren, um zu flüstern, waren seine Augen ernst.
„Heute bist du nichts weiter, als ein Mensch unter Menschen. Vergiss das nicht und alles wird gut gehen. Ich hätte dich nicht mitgenommen, wenn ich davon ausgegangen wäre, dass dich dieser Opernbesuch in ernsthafte Gefahr bringt."

Sie zwang sich, tief und ruhig zu atmen. Er wartete, bis sie nickte.
Dann stiegen sie hintereinander aus, Julian knipste sein Lächeln für die Kameras an und sie tat ihr Bestes, es ihm gleich zu tun, während er ihr den Arm anbot und sie sich unterhakte.
Nur ein Mensch unter Menschen.
Die Kameras waren lästiger als Fliegen im Sommer. Geblendet von den Lichtblitzen, taub von den Schreien der Reporter auf dem Bahnsteig, klammerte sie sich an Julians Arm. Das hier war keine gute Idee gewesen. Sie würden ihr Gesicht durch irgendwelche Datenbanken jagen und keine Liliane van Laurence finden. Sie würden nach ihren Eltern fragen, weil es sich für eine junge Adlige nicht schickte, alleine in den Kern zu reisen.

SkythiefWhere stories live. Discover now