Kapitel 64 - Deine wunderschönen Lügen

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Kapitel 64

Deine wunderschönen Lügen


~Theodor~

Seine Hand krallte sich in den Pullover. Der Stoff spannte sich um seinen Nacken. Er biss sich auf die Zunge und drückte sich in den ledernen Autositz. Man hatte ihm den Beifahrersitz überlassen, denn Bonnie hatte darauf bestanden. Sie hatte behauptet, er sei ein Freund von ihr, der auf der Flucht vor seinen Gläubigern wäre. Die Ausrede für sein zerstörtes Aussehen war, dass er ein Alkoholiker sei, der gerade einen kalten Entzug machen würde. Die Typen schienen ihr tatsächlich geglaubt zu haben. Nur hielten sie ihn wohl eher für einen Drogenjunkie, doch so wie er aussah, konnte er es ihnen kaum übel nehmen.
Theodor linste zu dem zwielichtig aussehenden Fahrer. Es war der schwarze Kerl, den dieser Srijan Mason genannt hatte. Er würdigte ihn keines Blickes. Theodor drehte sich wieder weg und starrte aus der getönten Scheibe des schwarzen Vans. Er war zu erschöpft um auch nur zu versuchen, die von der Fahrt verzerrten Bilder zu filtern. Er liess die Welt einfach an sich vorbeirauschen.
Noch immer konnte er kaum fassen, was ihm in der letzten Zeit alles widerfahren war. Ihm war klar, weshalb sie nicht tot waren. Bonnie. Als man ihm die Augenbinde abgenommen hatte, hatte er es gleich gesehen. Die Glaskaiserin war verloren. Genau wie der junge Kerl, den die Schläger Boss ansprachen, von Bonnie aber nur Srijan genannt wurde.
Theodor wusste nicht, was er von dem Boss halten sollte. Er war sicher einen Kopfe grösser als er und ziemlich kräftig. Seine Hautfarbe, die dunklen Haare und Augen liessen seine Abstammung klar erkennen. Srijan war ein gutaussehender Kerl. Er hatte ein unglaublich charmantes Lächeln und sein Blick war warm und freundlich. Vielleicht war es ja genau das, was Theodor so verunsicherte. Während seiner Laufbahn hatte er gelernt, dass gerade jene, die die schönsten Gesichter hatten, diese meist nur als Maske nutzten, um zu verbergen, wie hässlich ihre Herzen waren. Ausserdem war da etwas... etwas Düsteres... Er konnte es spüren. Er wusste nicht wie, aber er tat es. Genau wie er das Leben in anderen Wesen spüren konnte. Ihre Energie... Wenn er sich konzentrierte, spürte er es.
Genau wie er das Leben in Bonnie fühlen konnte.
Bonnie, die für ihn pures Leben ausstrahlte. Es schien fast so, dass, je schlechter es ihm ging, er das Leben in fremden Personen umso besser wahrnehmen konnte. Zwar musste er sich dafür konzentrieren, aber er spürte das Lebenslicht. Ebenso wie die Düsternis in manchen Menschen. Wie in Srijan...
Welche Wirkung Srijan auf ihn haben mochte, auf Bonnie hatte er eine ganz andere. Theodor hatte ihr Licht schon zuvor strahlend hell gefunden, doch in der Nähe Srijans schien sie förmlich zur Sonne zu werden.
Sonne... Für einen Moment spürte Theodor, wie ihn ein heftiges Verlangen packte. Das Verlangen nach der Sonne wie die Motte nach dem Licht. Sein Herz begann wie wild zu pochen, dass es wehtat. Sonne, Licht, Leben... Leben... Leben...
Er keuchte auf und kippte nach vorne. Er stützte sich auf das Armaturenbrett und atmete angestrengt ein und aus. Die Sonnenbrille, die er sich nach seiner Befreiung so schnell wie möglich wieder aufgesetzt hatte, um seine auffällige Augenfarbe zu verstecken, rutschte ihm fast von der Nase. Sonne... Licht... Leben und... Bonnie... Er zwang sich dazu, diese Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen.... Und... er beruhigte sich... langsam...
Theodor erschauderte. Für einen Moment hatte er sich selbst Angst eingejagt. Dieses... Verlangen... Wieder schüttelte er den Kopf, von sich selbst angewidert. Zum Teufel, was ging da gerade mit ihm vor?!
»Oi, Alter. Kommst du klar?«, knurrte plötzlich Mason neben ihm und nickte in seine Richtung.
Theodor blinzelte ihn überrascht an und nickte dann. Langsam lehnte er sich wieder zurück und schob die Sonnenbrille wieder an ihren Platz. Automatisch wanderte seine Hand wieder zu seiner Brust und krallte sich direkt über seinem Herzen in seinen Pullover.
Theodor dachte schon, damit sei das Gespräch mit dem Gangster beendet, doch nach ein paar Minuten der Stille warf er ihm einen Seitenblick zu und knurrte: »Was hat dich so zugerichtet, hmm? Crystal?«
Theodor rutschte nervös auf seinem Sitz herum. »N-nein... Äh...«, er brach ab. Es war klar, dass sein Alkoholproblem eine Lüge war. Darum ergänzte er schnell: »Meth.«
Er biss die Zähne aufeinander, um nicht laut aufzustöhnen. Er war so doof!
Mason runzelte die Stirn. »Entweder du lügst oder dein Hirn hat schon angefangen, sich aufzulösen.«
»Nein«, brummte er und fuhr sich übers Gesicht. »Ich bin einfach nur müde. War ein langer Tag...«
»Du bist also auf der Flucht, hmm? Hast du deinen Dealer nicht bezahlen können?«, hakte der Schläger weiter nach.
Theodor wurde vorsichtig. Er durfte nichts Falsches sagen. »So in der Art. Ich... habe Schulden bei ein paar gefährlichen Leuten.«
»Was denn für Leute?«
»Das ist meine Sache.«
Mason lachte grimmig. »Schlauer Junkie.«
Damit schien ihr Gespräch wohl endlich beendet zu sein, denn Theodor hatte mehr und mehr das Gefühl in die Enge getrieben zu werden. Was würden diese Proleten wohl tun, wenn sie herausfänden, wer er war?
Auf einmal hielt der Wagen an. Mason drehte sich nach hinten und rief in den Laderaum: »Boss, du kennst doch die Regeln...«
Die Gespräche hinter ihnen verstummten. Jemand erhob sich, Schritte waren zu hören. Srijan beugte sich zwischen den Sitzen vor und streckte die Hand aus. »Gib mit eine.«
Mason öffnete das Handschuhfach, zog etwas Schwarzes daraus hervor und reichte es Srijan.
Theodor betrachtete den Boss misstrauisch von der Seite, doch der warf ihm nur einen schnellen Blick zu und gab seinem Chauffeur den Befehl: »Die ist für Bonnie. Du kümmerst dich um unseren bleichen Freund hier!«
Theodor warf Srijan einen bösen Blick zu. Glücklicherweise erinnerte er sich noch an den Decknamen, den Bonnie ihm geben hatte, so konnte er sagen: »Der bleiche Freund hat einen Namen. Matthew Parker! Und wie soll er sich um mich kümmern?«
Srijan lächelte ihn an - und das nicht einmal unfreundlich - und brummte: »Mason wir es dir gleich erklären.« Er verschwand wieder im Laderaum.
Theodor wandte sich an Mason. »Nein!«
»Alter, komm runter«, schnaubte der bullige junge Mann. »Ist doch nur 'ne Augenbinde.« Er wedelte mit einem schwarzen Stoffband und zuckte mit den Schultern. »So sind die Regeln.«
»Und wer macht die Regeln?«, fragte Theodor patzig, streckte jedoch eine Hand aus, um die Augenbinde entgegenzunehmen.
»Der Boss.« Er warf ihm den Stoff zu.
»Srijan?«
»Nein«, knurrte Mason. »Advani ist mein Boss. Der Boss ist noch ein paar Stellen drüber. Der Oberboss.«
Theodor nahm sich wortlos die Sonnenbrille ab und stopfte sie in eine Hosentasche. Er band sich das Stoffband um die Augen. Gleich darauf spürte er, wie der Wagen sich wieder in Bewegung setzte.
Blind sass er nun da. Sein Herzschlag pochte ihm in den Ohren. Der Schmerz in seiner Brust wurde wieder schlimmer. Zuvor hatte er sich damit ablenken können, Mason zu beobachten oder aus dem Fenster zu starren, doch nun konzentrierte er sich zu sehr auf seinen Schmerz. Er hatte es bisher vermieden, die hinter ihm stattfindenden Geräusche zu belauschen, doch nun musste er sich mit irgendetwas beschäftigen, also spitzte er die Ohren und lauschte.
»Ihr hattet Glück, dass ich da war. Was habt ihr überhaupt da getrieben?«, hörte er Srijan mit tiefer Stimme fragen.
Bonnie, die dagegen hell wie ein Vogel klang, antwortete mit einer Gegenfrage: »Das gleiche könnte ich dich fragen! Was sollte das? 'Ne Drogenhöhle, Waffen...«
»Nicht hier!«, unterbrach er sie hastig.
Kurze Zeit schwieg Bonnie, doch dann ratterte sie los. Sie sprach in einer fremden Sprache, Hindi - wie Theodor vermutete - und Srijan antwortete ihr, ebenfalls auf Hindi. Sie schienen miteinander zu diskutieren.
Theodor ballte die Hände zu Fäusten. Was erlaubten die sich?! Was hatten die vor? In ihm kochte die Wut und er wollte sich gerade die Augenbinde vom Kopf reissen, da sagte Bonnie noch etwas und dieses Mal war es auf Englisch: »Ich mache mir Sorgen um ihn. Er ist krank oder so. Er gehört zu mir und so wie du mich beschützt, musst du es auch mit ihm machen, ja Srijan?«
Auf einmal war die rasende Wut in ihm verschwunden und er besann sich wieder. Was war nur los mit ihm? Dass ihn manchmal diese absurde Wut überwältigte, war ja eigentlich schon normal, aber es schien so, als würden seine Stimmungsschwankungen immer häufiger werden. Warum veränderte er sich so?
Der Wagen hielt an.
»Bleib sitzen!«, befahl ihm Mason, dann hörte Theodor, wie die Fahrertüre aufging und er ausstieg. Hinter ihm rumpelte es. Der Rest der Truppe schien den Van ebenfalls zu verlassen. Wie Mason es von ihm verlangt hatte, blieb er schweigend sitzen. Sein Herz begann schneller zu schlagen, es tat weh. In was war er da nur hineingeraten? Selbst wenn Bonnie Srijan kannte, diese Leute hier, die gehörten alle zu einer Gang, die Drogen herstellte und vertickte!
Neben ihm wurde die Tür aufgerissen, jemand packte ihn am Arm und zerrte ihn vom Sitz.
Theodor stolperte und fiel zu Boden. Schell rappelte er sich hoch und riss sich wütend die Augenbinde vom Kopf. »Was soll das?«
Der Wagen hatte vor einem Wohnblock geparkt. In London gab es kaum noch Gebäude wie diese. Alt, hässlich und heruntergekommen. Man bemühte sich, aus der Hauptstadt England den perfekten Touristenort zu machen, doch ein paar wenige Flecken in der Stadt gab es noch, wo Dreck und Unrat gediehen.
Mason hatte sich vor ihm aufgebaut. Ein weiterer Kerl, den Theodor noch nie gesehen hatte, stand daneben und musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen. Er hatte eine ziemlich krumme Nase, die aussah, als wäre sie ihm schon einige Male gebrochen worden. Er trug eine Cap, auf der Schriftzug Fuck The Police prangte. Ein durch und durch unsympathischer Typ. »Wer ist der Kerl? Was will der Boss von ihm? Seit wann nehmen wir Junkies bei uns auf? Nur weil der Typ zur neuen Nutte vom Boss gehört oder was?«
»Halts Maul, du Penner! Der Boss knallt dich ab, wenn er hört, wie du von der Kleinen redest!«, warnte ihn Mason. Mit einem derben Grinsen fügte er hinzu: »Andererseits... Hast du sie gesehen? Für diesen Arsch würde ich meine Mutter verkaufen!«
Theodor blinzelte ernüchtert. Redeten die von Bonnie?! »Sie ist keine Nutte!«, knurrte er erbost und spürte, wie sein Puls erneut in die Höhe schoss und die Wut unkontrollierter und gleichzeitig unwiderstehlich wurde. Unwiderstehliche Wut. Denn die Wut betäubte den Schmerz, wenn auch nur für kurze Zeit.
»Ob Nutte oder nicht, der Boss hat sie unter seine Fittiche genommen. Die Kleine will nicht, dass dem Junkie was passiert, also will der Boss es auch nicht. Komm, du armer Hund, wir finden bestimmt noch einen Platz für dich.«
Mason und der Fuck The Police-Kerl schoben sich hinter ihn und stiessen ihn vorwärts. Gerne hätte Theodor protestiert. Gerne hätte er sie abgeschüttelt, ihnen vielleicht sogar eine verpasst. Gern... doch er konnte es nicht. Nicht, weil er zu schwach war, nein, das war es nicht. Was ihn abhielt, war, dass er all seine Konzentration darauf verwenden musste, seine Wut zu kontrollieren, die schier tödlich war.
Tödlich...
Das Wort hallte in seinem Geist wider und brachte ihn zum Keuchen.
Tödlich, mörderisch... Denn das war es, wozu die Wut ihn trieb. Sie liess ihn zittern und erbeben. Das Verlangen nach dem Lebenslicht war wieder da, doch dieses Mal bezog es sich nicht auf Bonnie, es war ihm völlig egal, von wessen Leben er sich... nähren konnte.
Er liess sich absichtlich zu Boden fallen.
»Aufstehen!«, befahl Krummnase.
»J-ja«, keuchte Theodor. Er nutzte die Gelegenheit, um seine Wut zu bekämpfen. Er musste sich unter Kontrolle bekommen. Er war alleine. Dieses Mal konnte Bonnie ihn nicht beschützen oder retten. Er durfte nicht ausrasten! Mordlust... Das liess ihn seine Wut verspüren und er wollte nicht herausfinden, was geschehen würde, gäbe er ihr nach.
»Steh auf!«, knurrte einer der Schläger hinter ihm.
Theodor nickte. Vorsichtig erhob er sich. Er war noch immer wütend, doch er glaubte, sich unter Kontrolle zu haben.
Mason und der andere scheuchten ihn in das Gebäude.

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWhere stories live. Discover now