Kapitel 69 - Verfluchtes Kind mit Gold gekürt

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Kapitel 69

Verfluchtes Kind mit Gold gekürt


~Mile~

Hans war die Brücke runtergestürzt. Hans hatte die Brücke gefunden.
Sein Pferd hatte ihn auf dem Erbaunis zum Zwecke der Überquerung der Kaouthar abgeworfen, direkt in die Tiefe, wo das tobende Wasser bereits die Gischtfinger nach ihm ausgestreckt hatte, um ihn aufzufangen.
Nun war er tot und alle fragten sich, wo sein Glück geblieben war. Hatte er es aufgebraucht? War es in den Waldgärten von Wyr geblieben? Hatte die Göttin Cecily sich ihr Geschenk zurückgeholt? Oder hatte Hans noch immer Glück? War der Sturz von einer Brücke und der darauffolgende, unvermeidliche Tod etwas Gutes in Hinblick auf das, was ihn sonst erwartet hätte?
Die Schlacht?
Die Dunklen?
Ein Tod, schlimmer als von tobenden Wassermassen zerfetzt, zerquetscht und ertränkt zu werden?

Der Ezelwald hätte der stereotypischste Märchenwald sein können, den sich vorzustellen möglich wäre. Alles grünte und blühte und war so reich an Beeren und Obst, dass die Rebellen, die seit Wochen nichts anderes als magisch konservierte Nahrung zu sich genommen hatten, die Proviantwägen stehen und liegen gelassen hatten, um sich auf die frischen Früchte zu stürzen.
Im ersten Moment war die Freude gross gewesen, doch die Erkenntnis war schleichend, aber zielstrebig gekommen, hatte die Euphorie der Rebellen zerfressen wie ein Holzwurm den zarten Stamm einer jungen Birke.
Der Ezelwald war still, leer und tot. Keine Vögel zwitscherten in den Bäumen, keine Bienen sammelten Nektar in den Blüten, keine Asseln wuselten unter den Steinen, keine zeternden Wildfeen bauten Nester in Astlöchern, keine Rehe grasten auf den Lichtungen, keine Frösche laichten in den Teichen. Dieser Wald war wie ein leeres Haus – einzig die Heimat der Melancholie.
Allen wurde das irgendwann bewusst, selbst jenen, die sich dagegen werten. Spätestens als die ersten Früchte ihren Geschmack verloren oder gar innen faulig wurden – je näher sie dem Tal der Ewigkeit kamen, desto unabwendbar wurde die Erkenntnis.
Hier wollte und konnte niemand leben, nur der Wald war geblieben, denn er hatte keine Wahl. Mile war sich jedoch sicher, wäre es den Bäumen möglich, würden sie ihre Wurzeln aus dem Boden reissen und weglaufen, genau wie alle anderen.
Was sie alle aus dem Ezelwald vertrieben hatte, war schwerer zu erkennen als die Tatsache, dass sie weg waren. Es dauerte einen Tagesmarsch sowie die erste Nacht, bis Mile es verstand. Es war nicht besser zu beschreiben als wie es sich mit einer Schokoladenfabrik verhielt. Diese verströmten meilenweit einen Geruch, den man erst für lecker empfand, der einen an den Genuss der Süssigkeit erinnerte, bis man ihn lange genug gerochen hatte und auf einmal feststellen musste, dass daran nichts lecker war. Der Duft wurde zum Gestank, der einem schlecht werden liess und je näher man der Fabrik kam, desto schlimmer wurde es.
Der Ezelwald roch nicht nach Schokolade und eine Fabrik war auch nicht in der Nähe, dafür aber Tempus, die Hauptstadt Arkans. Auch Tempus hatte nichts mit Schokolade gemeinsam, nahm in dieser Metapher jedoch den Platz der Fabrik ein. Die Atmosphäre der Stadt, die sich in den Klauen der Dunklen befand, hatte sich auch auf den Ezelwald ausgeweitet und man konnte es im Nacken und unter den Nägeln kribbeln fühlen: das Böse, das Bedrohliche, die Angst.
Es färbte auf die Rebellen ab. Nächte und Tage waren erfüllt von Schreien. Grund dafür waren die Alpträume und die, die sie träumten und beim Erwachen nicht vergessen konnten.
Die Angst machte sie Wütend. Und Wut machte bösartig.
Seit Mile sich den Rebellen angeschlossen hatte, war dies die schlimmste Zeit für Hybriden, die er bisher miterlebt hatte, das war niemals klarer als jetzt.

Es war der zweite Abend im Ezelwald. Wie gewohnt hatten sich alle in kleinen Grüppchen im Wald um knisternde Lagerfeuer versammelt und kochten Wasser und Gemüse zu etwas fad schmeckenden Suppen zusammen. Anders als zu Beginn der Rebellion, waren da kaum noch gemischte Gruppen. Jedes Volk hatte ein Feuer für sich. Eine Tatsache, die Mile immer öfter auffiel und ihm sowohl Bauchweh als auch Kopfschmerzen verursachte.
»Das ist der Rassismus«, meinte Red wissend, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Mach dir keinen Kopf, Feuerjunge. So funktioniert der Krieg. Vor zweihundert Jahren, bevor Drosselbart die Rebellion zu führen begonnen hat, war das auch schon so. Das ist normal.«
Mile wollte eben widersprechen, dass Rassismus nicht einfach normal war und einfach so hingenommen werden durfte, da wurde seine Aufmerksamkeit von lautem Kreischen und wüsten Lachern abgelenkt.
Einige Meter weiter hatte sich eine Schar Soldaten im Kreis versammelt. Sie johlten, grölten, stiessen die Fäuste in die Luft. Über ihnen kreiste ein grosser Rabe, der immer wieder hinabstiess, hinter dem Wall aus Leuten verschwand, um gleich darauf hektisch flatternd in die Höhe zu fliehen.
»Ist das einer der...«, begann Red, doch Mile rannte bereits los, bevor sie ihre Frage beenden konnte.
»Lasst mich durch«, verlangte er und grub sich in die Menge, bis er die Gräueltat aus der ersten Reihe beobachten konnte.
Der Kranz aus Leuten hatte sich um vier Personen gebildet. Ein Aquaner, genauer ein Wasserlurch mit grüner Haut und Seetanghaaren, holte aus und versenkte seine Faust in der Magengrube eines kleinwüchsigen Wesens mit grossen Ohren, knolliger Nase, langem Bart und spitzem Gebiss. Das Wesen jaulte und schnappte nach Luft, konnte sich jedoch nicht wehren, da er von zwei Elfen an den Armen festgehalten wurde.
»Schafft den Vogel weg!«, verlangte einer der Elfen und hieb nach dem Raben, der ihm eben erfolgreich angegriffen hatte.
»Lass den Vogel«, lachte der andere Elf. »Sieh dir lieber das an!« Mit diesen Worten drehte er seinem heulenden Opfer den Arm nach hinten.
Die Menge lachte, als ein Fleck im Schritt der Hose des Wesens entstand und grösser wurde.
»Er hat sich angepisst, dreckiger Azblaka!«, gurgelte der Wasserlurch und schlug sich auf die Schenkel, sodass es klatschte und Wasser spritzte.
Mile sah rot. »Aufhören!«, brüllte er und riss einen der Elfen von dem Werwolf-Zwergen-Mischling weg.
Als die Übeltäter ihn erkannten, wichen sie zurück und liessen den Hybriden in den Dreck fallen.
Nimmertiger, denn um niemand anderes handelte es sich bei dem Vogel, krähte triumphierend und kackte dem Wasserlurch prompt auf den Kopf.
»Was sollte das?«, brüllte Mile, der sein Feuer, das ihm bereits den Arm hochkletterte, nur mühsam zu mässigen vermochte.
»Er hat uns Essen stehlen wollen«, rief ein Zwerg aus der Menge.
Mile runzelte die Stirn. »Warum sollte er das tun?«, fragte er. »Jeder bekommt seinen Anteil an der Essensausgabe!«
»Er ist gierig!«
»Er hasst uns!«
»Er will uns nur schaden!«
Red kämpfte sich durch die Menge, die sie mit Blicken erdolchten, doch die Rote reckte nur den Kopf in die Höhe und stiess jene, die sie nicht durchlassen wollten, zur Seite. Bei ihm angekommen liess sie sich zu dem Hybriden hinab und fragte ihn: »Was steckt dahinter?«
Der Mischling schniefte, straffte jedoch beim Anblick seiner attraktiven Artgenossin die Schultern und erklärte: »An der Essensausgabe haben sie mir nicht die ganze Ration gegeben. Nur ein Brot. Und als ich mich beschwert habe, haben sie mir auch das weggenommen und es in den Wald geworfen.«
»Er ist ein Dieb!«, kreischte der Wasserlurch und schrubbte sich die Vogelscheisse vom Seetang.
»Ich hatte nur Hunger!«, wimmerte der Hybrid.
Mile schüttelte den Kopf. »Ruhe, ihr alle!« Er deutete auf einen Menschen, der sich beschämt zurückzuziehen versucht hatte, und rief: »Du da, was tust du hier?«
Der Mensch zuckte zusammen und stammelte: »Ich... habe gesehen, dass... hier etwas los ist und i-ich ging nachsehen...«
»Ach und warum hast du nicht eingegriffen?«
»Na ja, alle haben gejubelt und... ich dachte, es wär nicht schlimm, es war ja nur ein Hybrid und...«
»Himmel, seid ihr denn alle wahnsinnig geworden?«, rief Mile. »Du«, er zeigte wieder auf den Menschen, »gehst an jede Essensausgabe vorbei und richtest denen aus, dass sie ab jetzt jeden Hybriden fair behandeln oder sie bekommen es mit mir zu tun, kapiert?«
Der Mensch nickte.
»Und nimm ihn hier mit!«, ergänzte Red seinen Befehl, während sie dem Hybriden aufhalf. »Die sollen ihm etwas Anständiges zum Essen geben!«
Er nickte. An den Rest gewandt verkündete er: »Ihr alle werdet euch beim nächsten Aufbruch bei den Transportdiensten einfinden und die Wagen schieben! Und wehe einer von euch drückt sich davor.« Ein Grinsen unterdrückend fügte er hinzu: »Ein Lichterlord vergisst nie ein Gesicht, also wagt es ja nicht, euch zu drücken!«
Die Übeltäter zogen den Kopf ein und nickten. Nur die Elfen nicht. Die Spitzohren... grinsten...
»Was?«, knurrte er und zog eine Braue hoch.
Einer der Elfen trat vor. Geronnenes Blut malte Rinnsale über seine Stirn und sammelte sich an seiner Augenbraue. »Königin Amiéle hat Drosselbarts Gesetze die Hybriden betreffend aufgehoben. Die Rassenlosen haben keine Rechte für die Elfen.«
Red keuchte. »Was?«
Mile blinzelte. »Ich glaube, ich höre nicht richtig.«
»Tut mir Leid, Mylord«, meinte der Elf zuckersüss, zuckte mit den Schultern und kehrte ihm den Rücken zu.
Am liebsten hätte Mile ihm das dreckige Grinsen von einem Spitzohr zum anderen erweitert, doch er liess es bleiben.
»Kommt«, lenkte Red ihn ab. »Wir wollten ohnehin gerade zu einer Ratsversammlung...«
Mile nickte und legte den Kopf in den Nacken. Vereinzelte Tropfen kündigten Regen an. Dort oben hing sein Luftschloss in den Wolken und drohte bald hinabzustürzen und alles unter sich zu begraben...

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWhere stories live. Discover now