Kapitel 79 - Lucky Strike

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Kapitel 79

Lucky Strike


~Theodor~

Der Teppich flog über Peckham, hinweg über Strassen dicht gedrängter Reihenhäuser, Quartiere grauer Betonblöcke und das ein oder andere Einkaufszentrum. Irgendwann strahlten ihnen die Lichter der City entgegen, das London Eye wie ein Leuchtturm.
Theodor liess den Teppich einfach fliegen. Er hätte die Finger in die Fransen graben und ihn mit einem leichten Ziehen von seinem Kurs abbringen können, doch wohin hätte er ihn lenken sollen? Also überliess er die Richtung dem Teppich. Wohin der Wind oder das Leben in seinen Fasern ihn auch tragen mochte...
Der Nieselregen hatte angehalten, rann ihm kalt das Rückgrat hinab, der Flugwind zerrte an ihm. Er fröstelte. Sein Pullover war ihm nicht nur viel zu gross, er hatte nun auch ein riesiges Loch in der Schulter. Doch über letzteres durfte er sich nicht beschweren, schliesslich hatte Bonnie den Hoodie aufschneiden müssen, um an seine Schussverletzung zu kommen, die nur dank ihr geheilt war, als wäre sie nie da gewesen...
Mit einem schnellen Blick über die Schulter vergewisserte er sich, dass sie noch hinter ihm sass und das tat sie. Zusammengekauert über Srijans Leichnam, stumm ins Nichts starrend.
Auch für sie flog der Teppich ins Ungewisse.
Wo sollten sie nun hin?
Unter ihnen rauschte die Themse. Die Touristen auf der Westminster Bridge waren klein wie Ameisen. Jedem von ihnen entging das Wunder aus Woll-und Seidengarnen, denn niemand blickte gen Himmel. Warum auch? Die Lichter der Stadt frassen die Sterne.
Mit Srijans Versterben war auch Abby verschwunden. Er hatte ihren Schrei noch immer im Ohr. Im ersten Moment hatte er geglaubt, er hätte ihm gegolten und war bei der Erinnerung an seine letzten Nahtoderfahrungen vor Angst beinahe vom Teppich gefallen... bis er gemerkt hatte, dass nicht er gemeint gewesen war, sondern Srijan...
Abby schrie also überall dort, wo Menschen starben und das geschah beunruhigend oft in seiner Umgebung...
Vor seinem inneren Auge erschien das Bild des Todes und er hörte dessen Stimme im Ohr: »Mein Sohn...« Er fröstelte und dieses Mal nicht aufgrund des Regens...
Er schüttelte den Kopf und damit die düsteren Gedanken ab. Zuvor war er schwach und krank gewesen, aber jetzt ging es ihm wieder gut! Kein Schmerz in der Brust, keine Infarkte, er war geheilt. Er musste es einfach sein...
»Wir müssen ihn begraben.«
Er hatte nicht bemerkt, dass Bonnie sich neben ihn gesetzt hatte. Mit derselben starren Miene, mit der sie eben noch ins Nichts gestarrt hatte, sah sie der Stadt zu, wie sie unter ihnen vorbeizog. Es war fast wie ein schlechter Scherz, dass sie eben über Bunhill Fields Baumkronen hinwegflogen. Dort trauten sich um diese Zeit nicht einmal die Touristen hin...
Theodor nickte. »Weisst du schon wo?«, fragte er vorsichtig.
Sie zuckte mit den Schultern. »Wo begräbt man in London eine Leiche?«
Er schwieg, denn er war sich nicht sicher, ob sie eine Antwort von ihm erwartete. Ausserdem fiel ihm nichts ein, was in dieser Situation passend gewirkt hätte. Er hatte keine Erfahrung mit Verlust, ausser mit seinem eigenen...
Stattdessen wechselte auf einmal der Teppich in eine andere Richtung, ganz als wüsste er auf einmal, was ihr Ziel war...


~Bonnie~

Sie sprang über die Bordüre des Teppichs, bevor dieser gelandet war. Der Kies unter ihren Solen knirschte. Irgendein Tier -vielleicht eine der vielen Katzen, die bei Nacht die Herrschaft über die Stadt an sich rissen – floh in ein nahes Gebüsch.
Sie befanden sich scheinbar in einem auf einem Weg, der links und rechts von zwei begehbaren Plattformen aus Beton gesäumt war. Durch die graffitibeschmierte Backsteinwand hinter ihnen führte eine Unterführung, über der, dem Licht der dortigen Lampen zum Schein, eine Strasse verlief, den Weg fort. Um sie herum überwucherten Bäume und Sträucher Backstein und Beton, als hätte die Natur diesem Stück der Metropole den Krieg erklärt. Eine Schlacht, die nur sehr langsam, aber unvermeidlich war. Es war März und der Frühling hatte eben begonnen, den Winter aus der Welt zu treiben. Junges Grün trieb aus den Ästen, die Knospen würden sich schon bald entfalten oder hatten es bereits in aller Pracht, die flauschigen Weidenkätzchen schimmerten silbern in der Nacht.
Was für ein surrealer Ort... Dies war nicht die von Landschaftsgärtnern der grossen Parks Londons penibel gepflegte, künstlich angelegte Natur. Dieser Weg... war echt. Echtes Leben, gewachsen wie die Vegetation es geformt hatte. Der einzige Gärtner hier war Mutter Natur. Als wäre der Weg vor langer Zeit vergessen und sich selbst überlassen worden. Und doch konnte sie über sich Autos fahren hören, als wären sie noch immer in der Grossstadt...
»Wo sind wir?«, fragte sie überrascht.
Sie spürte, wie es in ihrem Rucksack zu rumoren begann und Gigas sich herauskämpfte. »Da gönne ich mir ein paar Stunden Schlaf und schon habt ihr euch verlaufen. War ja klar...«
Sie verdrehte die Augen. »Als ob. Du hattest Schiss und bist erst jetzt wieder rausgekommen, da wir in Sicherheit sind und festen Boden unter den Füssen haben.«
»Gar nicht wahr«, protestierte der Kolibri und landete auf ihrer Schulter. Anders als sie es von ihm gewohnt war, führte er seine Rechtfertigung von dort jedoch nicht weiter aus. Vielleicht war das seine Art, Rücksicht zu nehmen wegen... Srijan...
»Crouch End Hill«, verkündete Theodor auf einmal.
Stirnrunzelnd drehte sie sich zu ihm um. »Woher weisst du...«
Er stand vor einem schwarzen Wegweiser mit grünen Pfeilen, von denen der eine Richtung Highgate Wood und der andere zum Finsbury Park zeigte, in dessen Mitte auf einem Ring der Name des Areals stand.
»Muss man das kennen?«
Er kratzte sich am Lockenkopf und zuckte mit den Schultern. Sie sah, wie sein Blick zwischen ihr und dem Teppich hin-und her zuckte. Sie wusste, welche Frage ihm auf der Zunge lag. Was nun?
Auch der sonst so schwatzhafte Vogel sagte nichts und sah sie nur erwartungsvoll an.
Sie schluckte, denn sie konnte keinem der beiden eine Antwort geben. Der erste Schritt war wohl, Srijan zu begraben. Und ein vergessener Ort war wohl perfekt, um etwas zu verstecken, das nicht gefunden werden sollte...
Bei dem Gedanken zog sich alles in ihr zusammen. Sie würden seinen Körper irgendwo in der Erde verscharren. Ein Grab ohne Namen. Ihr war schon wieder zum Heulen zumute...
Wortlos bückte sie sich zu ihrem Fluggefährt hinab und zupfte an einer dessen Fransen, bis es sich auf Kniehöhe in der Luft befand. Dann begann sie in Richtung Finsbury Park zu laufen, Teppich und Theodor hinterher. »Suchen wir ihm einen schönen Ruheort, das hier ist mir zu nahe an der Strasse...«
»Und wie willst du das anstellen? Wir haben keine Spaten oder so was dabei.«
»Ich weiss schon, was ich tue...«

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt