Kapitel 72 - Phönix

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Kapitel 72

Phönix


~Mile~

Alles ging so schnell, dass er erst verstand, was geschehen war, als er sich bereits im freien Fall befand.
Er schrie, ruderte mit den Armen. Die Kristallfassade des Palastes stürzte gefährlich nahe an ihnen vorbei.
Der Nebel hatte sich verzogen, doch die Sicht war noch immer stark beschränkt. Tempus brannte und Asche und Staub verschmutzten die Luft. Es reichte jedoch, um die Oberfläche des Wassergrabens, die immer näher kam, unter ihnen zu erkennen. Schwarzes, schmutziges Wasser, das bei einem Sturz aus dieser Höhe zu Beton werden würde...
Hänsel, der ihn fest umklammert hielt, brüllte irgendetwas, doch die Luft riss ihm die Worte von den Lippen. Er vernahm nur Fetzen. »Halten... Zauber... Chance... Körper...«
Mile schüttelte den Kopf, er verstand kein Wort. Der Druck auf seinen Ohren wurde immer schlimmer... Hänsel grub eine seiner Hände in Miles Haare und drückte seinen Kopf auf seine Schulter. Der heisse Atem des Dämonenschlächters blies ihm ins Ohr, als er ihm zuraunte: »Vertrau mir! Entspann die Muskeln! Versteck meine und später die Leiche meiner Schwester!« Drei knappe Anweisungen, jede wahnwitziger als die andere. Doch so weit der Weg nach unten auch war, das Ende ihres Falls war nahe und somit hatte Mile eine Entscheidung zu treffen.
Vertrau mir!
Mile schloss die Augen, entspannte seine Muskeln. Er spürte, wie Hänsel ihn mit seinen Baumstammarmen-und Beinen umschloss und ihn an sich drückte. Dann schlugen sie auf, Hänsel brach, knackte, quetschte, riss... Als das schwarze Wasser über sie hereinbrach, war Hänsel zertrümmert und Mile... lebte...

Trotz des Opfers des Dämonenjägers war der Aufschlag hart gewesen und hatte ihm den Atem aus der Lunge gequetscht. Sein erster Impuls war, nach Luft zu ringen, doch nur mit sehr viel Selbstbeherrschung gelang es ihm, den Instinkt zu unterdrücken und sich auf die schwarze Brühe zu besinnen, in der er schwamm. Wo oben und unten war, liess sich nicht durch Licht enträtseln, so dick war sie, nichts war zu sehen.
Mile packte den Dämonenjäger, der drohte, abzusinken, am Arm und begann mit der letzten Kraft, die die Verzweiflung aus ihm wringen konnte, nach oben zu schwimmen.
Seine Lunge schmerzte, sein Körper schrie nach Sauerstoff. Er drückte das Wasser mit Tritten und Schlägen nach unten. Seine Finger streiften etwas. Glatt, schmierig, schuppig...
Als ihn wieder etwas berührte, diesmal am Kinn, war er sich sicher, dass hier noch etwas war und dass er diesem etwas blind ausgeliefert war.
In der Hoffnung, so wenigstens ein wenig Licht zu bekommen, liess er Hitze in seine freie Hand fahren, bis diese zu Glühen begann.
Vor ihm schwebte das feingeschnittene Gesicht einer Frau. Sie war sehr jung, doch ihr Haar war so weiss wie das einer alten Frau. Sie war blass, selbst die Lippen waren farblos. Die Nase war klein und spitz, was die klaren, bis auf die Pupillen gänzlich weissen Augen unproportional gross wirken liess. Als sie den Kopf neugierig schräg legte, sah Mile, dass ihre Ohren kleinen Flossen ähnelten.
Eine Meerjungfrau?
Das Wesen streckte seine blassen Finger nach ihm aus und nun fiel das Licht auch auf die grazilen Schultern, geschwungenen Brüste und die schmale Taille, wo die weisse, makellose Haut in silbernen Schuppen überging, die schimmerten, als wären sie aus Perlmutt. Sie berührte sein Gesicht, strich ihm über Stirn, Nase und Mund. Als sie ihm ein scheues Lächeln schenkte, konnte er nicht anders, als es zu erwidern, was ihres noch breiter werden liess. Und breiter. Bis sie grinste und Reihen an Haifischzähnen entblösste.
Mile zuckte zurück, doch es war zu spät. Das Wesen packte ihn am Hals und drückte zu. Das Gesicht, das er zuvor als fein und schön empfunden hatte, war nun eine hässliche Fratze mit weit aufgerissenem Maul und Augen, die stumpf waren wie die eines Fischs, ohne Verstand, da waren nur die bestialischen Triebe...
Mile zappelte, versuchte, sich loszureissen, doch der Griff der Bestie war wie ein Schraubstock.
Seine Hand, die zuvor ein sanftes Glühen verströmt hatte, wurde heller und heller und Mile sah, dass dieses Wesen nicht allein gekommen war. Mindestens zehn weitere zogen ihre Kreise um ihn und lachten ihre Fratzen. Und plötzlich war da auch die schreckliche Atemnot zurück, die er beim Anblick der schönen, nackten Frau ganz vergessen hatte.
»Du dämlicher Bock!«, konnte er Red und Sabrina sagen hören und er musste ihnen zustimmen.
Eine der anderen Bestien löste sich aus der Strudelartigen Formation und wollte sich auf Hänsel, den Mile noch immer mit der linken Hand umklammerte, zu schaffen machen. Er sah, wie sie die Zähne in sein Bein schlug, sie spitz wie Nadeln durch die Lederrüstung schnitten und ein roter schweif aus der Wunde trat.
Das Blut schien die Mordlust in den Wesen ausser Kontrolle geraten zu lassen. Sie stiessen spitze, gurgelnde Schreie aus und warfen sich auf sie, bissen, was sie zu fassen bekamen.
Mile trat und schlug, doch im Wasser hatte er keine Chance. Seine einzige Rettung, war sein Feuer.
Er schloss die Augen, sandte all seine Energie in seine glühende Hand. Ein gleissendes Licht schoss aus ihr hervor, er spürte, wie das Wasser um ihn herum zu brodeln begann, hörte die panischen Schreie der Ungeheuer, als diese von seiner Hitze verbrüht wurden...

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWhere stories live. Discover now