Kapitel 52 - Das Gedicht des Todes

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Kapitel 52

Das Gedicht des Todes


~Theodor~

Es war einer dieser grauen Morgen. Der Nebel hing wie ein dichter Vorhang über der Welt, versteckte all die verschlafenen Wunder und liess alles geheimnisvoller wirken, als es eigentlich war. Kahle Bäume, die am Tage nur ein Symbol für die Vergänglichkeit des Lebens waren, liess der Nebel zu schauerhaften, dunklen Gestalten mit langen, gekrümmten Fingern, gebückter Haltung und verzogenen Fratzen werden. Die weisse Umarmung dieses Schleiers drängte das Licht der Sonne zurück und so stand der sonst so glühende, gigantische, brennende Stern heute nur in Form eines leuchtenden Punkts am Himmel, kaum hell genug, um den Weg zu erleuchten, den die beiden Fliehenden eingeschlagen hatten.
Ohne Halten, ohne zu wissen wohin, waren sie in die Nacht gejagt. Weg, nur weit, weit weg von all dem Chaos, all den Geistern ihrer mysteriösen Vergangenheit. Weg, immer weiter weg von den goldenen Käfigen, in die man sie gesperrt hatte. Weg von ihren Knechten und Dieben, die ihnen ihre Freiheit und ihre Leben gestohlen hatten.
Zuerst waren sie vollkommen orientierungslos durch die Felder geritten. Gersten, Weizen, Roggen, später auch durch Mais und dann waren die Wiesen gekommen. Das Gras war frisch, grün und hoch gewesen. Bonnie war behände von ihrem Pferd gesprungen, hatte die Stute sanft hinter dem Ohr gekrault und ihr dann einen leichten Klapps auf den Hintern gegeben und das Tier war davongesprungen. Theodor hatte versucht, es ihr gleich zu tun, hatte jedoch weniger Erfolg gehabt. Ungeschickt war er aus dem Sattel gerutscht und vom Pferd gefallen. Bonnie hatte Alfons II gerade noch davon abhalten können, vor Schreck loszurasen und seinen ungeschickten Reiter, der noch immer mit einem Fuss im Steigbügel gehangen war, hinter sich her zu zerren. Da war es noch dunkel gewesen. Eine schattenhafte Nacht, die beste Zeit für eine Flucht.
Nun graute der Morgen. Ein kalter, nasser, geheimnisvoller, nebliger Morgen. Ein grauer Morgen.
Der Kies knirschte unter ihren Füssen. Er atmete schwer. Sie liefen nun schon so lange. Sein Herz schmerzte bei jedem seiner Schläge.
Trotzdem gingen sie weiter. Ohne Rast und ohne Ruh. Und der Nebel schützte sie, versteckte sie vor denen, die sie jagten. Sie waren Kinder des Nebels. Zwei Flüchtende, die am frühen Morgen, wenn noch nicht einmal die Vögel erwacht waren, ins Ungewisse wanderten.
»Wir hätten die Pferde nicht verscheuchen sollen«, knurrte Theodor, ohne den Blick von seinen Füssen zu lösen. Schritt für Schritt trugen sie ihn weiter. Alles tat so weh! Er fühlte sich so kraftlos. Sterben war scheisse!
Bonnie schnalzte abfällig und murmelte: »Die werden uns suchen. Gantrovo wird mich niemals so leicht entwischen lassen. Und dank dir wird die Polizei jetzt auch Jagd auf mich machen! Die Bullen haben Suchhunde. Die hätten die Pferde gewittert. Wenn wir Glück haben, wird es heute noch regnen und unsere Gerüche wegspülen.«
Theodor schluckte. Die Polizei! Ob sie ihn schon mit Abbys Leiche in Verbindung gebracht hatten? Genug DNA hatte er ihnen sicher hinterlassen, aber soweit er wusste, stand er in keiner Polizeidatenbank. Oder doch? Schliesslich war er ja angeblich entführt worden. Von Bonnie Cassedy. So hiess es jedenfalls offiziell in der Polizeiakte. Na ja, ganz so stimmte das auch nicht. Die Polente hatte den Fall nicht aufklären können. Wie hätten die Kerle Bonnie auch nachweisen können, dass sie ihn von der Bühne verschwinden lassen hatte? Ausserdem hatte sie ja wirklich nichts getan! Jedenfalls war sie die Hauptverdächtige gewesen. Das sie aus irgendeinem Grund eine Waffe dabei gehabt hatte, war auch nicht wirklich vorteilhaft für sie gewesen. Er selbst hatte einfach behauptet, er könne sich an praktisch nichts erinnern. Er hatte einfach Bonnies Namen angegeben, um sich selbst aus der Schlinge zu ziehen. Ja, das war feige und nicht ganz fair Bonnie gegenüber gewesen, aber was hätte er den Bullen sonst erzählen sollen? Die Geschichte mit der stehengebliebenen Zeit war ja wohl mehr als unglaubwürdig. Zudem hatte Theodor wirklich keine Lust, die letzten Tage seines Lebens in einer Klapsmühle zu verbringen.
»Tut mir leid, Bonnie. Die Wahrheit hätte ich den Typen ja wohl kaum erzählen können.«
»Aber du hast ihnen meinen Namen verraten! Die hatten zuvor keine Ahnung, wer ich bin und bis die meine DNA analysiert hätten, wäre ich schon lange wieder auf freiem Fuss gewesen. Und dann haben die Bullen doch echt gedacht, ich hätte dich entführt! So ein Blödsinn! Ich halte es ja kaum mit dir aus und da soll ich dich gekidnappt haben? Freiwillig meine Zeit an dich verschwenden? Pha!«
Theodor schwieg eine Weile und konzentrierte sich aufs Laufen. Nachdem sie die Pferde verscheucht hatten, waren sie zu Fuss weitergereist. Querfeldein, über Hügel und durch Täler. Einfach immer der Nase nach. Irgendwann waren sie auf einen schmalen Kiesweg gestossen und diesem gefolgt. Gigas, hatte sich bereit erklärt, ein Stück voraus zu fliegen, um in gutes Versteck für sie zu finden und so schleppten sie sich nun nur noch zu zweit vorwärts. Dank den Wiesen und Feldern, durch die sie gestreift waren, rochen sie jetzt beide wie Heuhaufen. Zwei wandelnde Heuhaufen. Vielleicht war der Gestank ja stark genug, um ihren eigenen zu überdecken.
Irgendwann meinte Theodor zaghaft: »Bonnie, wirklich, ich wollte das nicht, es tut mir leid. Diese Verdächtigungen gegen dich, dass du mich entführt hättest... ich habe damit nichts zu tun!«
Vor Wut stampfte Bonnie auf den Boden wie ein kleines Kind. Sie packte ihn am Kragen seines Kapuzenshirts, schüttelte ihn und brüllte: »Du begreifst es einfach nicht, oder? Eben das ist ja der Punkt! Du hast mit all dem nichts zu tun! Ich habe dir das Leben gerettet! Und du? Du hast nichts damit zu tun. Theodor, du hast mich einfach so ins Messer laufen lassen! Du hast mir kein Bisschen geholfen. Du hast dich zurück gelehnt und nichts getan. Ach nein, halt, stimmt ja. Du hast schon etwas gemacht. Du Genie hast den Bullen meinen Namen verraten! Klasse! Wirklich genial! Natürlich ist dann gleich mein beschissener Vormund aufgetaucht und ich sitze erneut bei dem Mistkerl fest!«
Theodor starrte Bonnie in die Augen. Er konnte ihren Atem auf seinem Gesicht spüren. Verwirrt stammelte er: »Ich...«
»Erspar es mir!«, zischte sie und liess ihn los. Für ihre Grösse hatte sie aber verdammt viel Kraft...
»Bonnie, bitte warte. Ich... ich wollte das wirklich nicht!«, rief er, doch das Mädchen ignoriert ihn und lief stur weiter. Er nahm keine Rücksicht auf seine Schmerzen und eilte ihr nach.
»Bitte, Bonnie.«
Sie blieb stehen. Sie blieb tatsächlich stehen!
»Fass dich kurz!«, knurrte sie, ohne ihn anzusehen.
Eilig nickte er, machte den Mund auf und... sagte nichts. Ihm fielen einfach die richtigen Worte nicht ein.
»Was soll das eigentlich, Theodor? Spiel gefälligst nicht mit mir. Ich bin keines deiner Flittchen, mit denen du dich in deiner Freizeit begnügst!«, fauchte sie, warf schwungvoll die vom Nebel durchnässten Haare zurück und stolzierte weiter.
Klasse, er hatte es also mal wieder vermasselt! Wie ein Hündchen trottete er hinter ihr her und murmelte: »Ich kann so was nicht. Ich... ich weiss nicht, wie das geht. Keine Ahnung! Ich... habe noch nie jemanden wie dich getroffen...«
Bonnie lachte auf und knurrte: »Oi! Wenn das so was wie 'ne Anmache sein soll, dann...«
»Nein!«, unterbrach er sie etwas zu laut. Verwundert, wie energisch er gewesen war, sah Bonnie ihn an. Da er nun ihren Blick auf sich spürte, fühlte er sich sogleich wieder unsicherer. Trotzdem versuchte er in Worte zu fassen, was er gemeint hatte: »Ich meine das wirklich so, Bonnie Cassedy. Alle Leute, die ich kenne - oder zu kennen glaube - behandeln mich«, er suchte nach dem richtigen Wort und brummte dann: »anders.«
Bonnie blinzelte verwirrt.
»Wie soll ich das erklären... Sie behandeln mich, als wäre ich keiner von ihnen.«
»Ich dachte, du bist so ein riesen Superstar?«, fragte sie und zog skeptisch eine Augenbraue hoch.
»Ja, schon. Es ist ja nicht so, als würden sie mich ausschliessen. Im Gegenteil. Viele verehren mich und... lieben mich. Egal, was ich tue, ich werde von ihnen angebetet.«
»Und das ist schlecht?«
»Manchmal schon.«
Bonnie sah ihn lange an, was ihn irgendwie einschüchterte. Trotzdem redete er weiter: »Wenn dich jeder behandelt, als wärst du etwas Besonderes, dann wirst du einsam. Du bist von anderen abgehoben, bildlich gesprochen. Du bist nicht auf der gleichen Ebene wie alle andere. Du wirst von Fremden komplett anders behandelt, obwohl diese Leute dich eigentlich gar nicht kennen. All das bringt mit sich, dass du auch niemanden wirklich kennen lernst. Alle verstellen sich, um gut dazustehen. Jede Sympathie basiert einzig auf der Tatsache, wer ich bin. Es ist, als würde ich jeden Tag in einer Welt leben, in der sich alles nur um mich dreht und doch nicht von mir handelt. Die Leute sehen, was man ihnen zeigt und was sie sehen wollen. Kennen tut mich niemand.«
»Toll und jetzt willst du, dass ich Mitleid mit dir habe, Theodor?«, fragte Bonnie, ohne eine Miene zu verziehen.
»Aber nein, genau das meine ich ja! Du... dir ist es einfach egal, wer ich bin. Du behandelst mich vollkommen normal. Gut, nein, das stimmt auch wieder nicht, du hasst mich, aber... keine Ahnung, das tut irgendwie gut...«
Er klappte den Mund zu. Er fühlte sich gleichermassen erleichtert, als auch ziemlich schlecht. Was er Bonnie gerade erzählt hatte, hatte er so tief in seinem Inneren vergraben, schon seit Jahren. Irgendwie war es ja kindisch und vielleicht auch ein wenig naiv, aber es war nun einmal die verdammte Wahrheit! Er war eigentlich immer stolz gewesen auf das, was er war. Gleichzeitig hasste er sich auch dafür, was auch ziemlich unlogisch war. Er lebte in einem ständigen Konflikt mit sich selbst. Einerseits genoss er all die Bewunderung, die ihm die Leute entgegenbrachten und andererseits stresste ihn all der Rummel. Er liebte es zu singen und war stolz auf seinen Status als Superstar, trotzdem hasste er diese dauernden Liebesschnulzen, die die einzige Art Musik war, die er offiziell vertrieb.
Bonnie schüttelte missmutig den Kopf und brummte: »Dann bin ich also so was wie Ferien für dich?«
»Nein, so ist das auch nicht gemeint. Himmel, du machst es einem auch kompliziert. Ich will nur sagen, dass ich dir wirklich nicht schaden wollte, Bonnie. Ich weiss nicht, wieso sich unsere Wege immer wieder kreuzen, aber ich bin froh, dass sie es tun, denn so habe ich die Möglichkeit, mich zu entschuldigen. Ich kann das so oft tun, wie du willst, Bonnie. Es tut mir wirklich leid. Vielleicht ist es dir ja tatsächlich egal und ich verschwende nur meine Zeit, trotzdem wollte ich dir das alles erzählen. Ich bin nicht gut in so was, weil ich das noch nie gemacht habe. Keine Ahnung, vielleicht habe ich keine Ahnung, bin nur zu lange alleine gewesen, blöd und naiv, aber trotzdem... Bonnie, du bist, glaube ich, so was wie eine Freundin für mich. Ich will nicht, dass das kaputt geht, denn ich hatte noch niemals Freundschaft und...«, Theodor brach ab. Ein breites Grinsen hatte sich auf Bonnies Gesicht ausgebreitet und das verwirrte ihn. Warum dieser plötzliche Gefühlsumschwung? Unsicher fragte er: »Du machst dich über mich lustig, oder? Toll, ich bin echt blöd. Ich hätte nichts sagen sollen und...«
Bonnie lachte und umarmte ihn, während sie kichernd meinte: »Himmel, Theodor! Du bist so ein Arschloch und ich bin eigentlich auch noch sauer auf dich, aber... Wie lange kennen wir uns? Knapp einen halben Tag, unsere Flucht mit einbezogen? Wenn das für dich deine erste Freundschaft ist... Du musst wirklich, wirklich keine Ahnung vom normalen Leben haben, oder? Eine Freundschaft aufzubauen, dauert eigentlich etwas länger, aber... ich denke, ich habe nun gar keine andere Wahl, als mit dir befreundet zu sein.«
Überrascht erwiderte er ihre Umarmung und musste bei ihren Worten grinsen. Als sie sich wieder von ihm gelöst hatte, lachte er und brummte: »Ich bin schon ziemlich erbärmlich, oder?«
Bonnie nickte, zwinkerte ihm aber zu. Dann meinte sie: »Na los jetzt, Kumpel. Vergiss nicht, dass wir noch immer auf der Flucht sind!«
Er nickte und ging neben ihr her.
»Die Vorstellung«, brummte er verlegen, »Hat mir übrigens gut gefallen! Du hast mir verschwiegen, dass du tanzen kannst!«
Bonnie lächelte geschmeichelt und strich über ihr Kostüm, das mittlerweile schon etwas mitgenommen aussah. Es war von dem langen Ritt auf dem Pferd zerknittert, die silbernen Glöckchen hatte sie schon fast alle verloren und der Samt war an einigen Stellen etwas schmutzig. Die schimmernde Nylonstrumpfhose war eigentlich kaum noch als Strumpfhose zu bezeichnen. Eigentlich war sie nichts anderes als eine riesige Laufmasche. Auch Bonnies Schminke hatte sich bereits selbstständig gemacht und so war der Eyeliner unter ihrem rechten Auge verschmiert. Erstaunlicherweise war der Lidschatten und der Lippenstift weder verschmiert noch zerlaufen. Ihre Frisur hatte sich auch ganz gut gehalten, wenn sich auch ein paar wenige, vereinzelte Strähnen aus dem Zopf gelöst hatten, der ihr auf einer Seite des Kopfes geflochten worden war, um dann an ihrem Hinterkopf in dem See aus schwarzem Haar zu enden. Die glitzernden Perlen in ihrer Mähne erinnerten an Tautropfen, die die Blätter von Büschen und Sträuchern an einem kühlen Frühlingsmorgen benetzten. Die schokoladenbraunen Augen blitzten frech, ihre geschwungenen Lippen lächelten. Die ganze Nacht waren sie nun schon auf, waren auf Pferden geritten, durch dichtes Buschwerk gekraxelt, über Felder und Wiesen gewandert und doch sah Bonnie noch immer wundervoll aus. Bonnie Cassedy, die schwarze Orchidee.
»Was dachtest du denn? Ich bin eine Zirkussensation, da muss ich ja wohl was drauf haben!«, lachte sie.
»So verschieden sind unsere Leben wohl gar nicht«, kicherte er, hörte jedoch gleich wieder damit auf, denn Bonnies Blick hatte so gar nichts Belustigtes an sich. Sie sah aus, als hätte er ihr gerade erzählt, er hätte Gigas ausversehen überfahren oder so. Verunsichert fragte er: »Hab ich was Falsches gesagt?«
Ihre Mine verdüsterte sich und sie brummte: »Ja, eigentlich schon. Tut mir leid, aber ich bin mit dir absolut nicht einer Meinung.«
»Wieso? Wir beide führen ein absolut chaotisches Leben! Wir reisen um die ganze Welt, um die Menschen zu unterhalten. Wir sind nirgendwo zu Hause. Wir beide sind so was wie ein Supertalent...«
»Du, Theodor Stark, lebst in Saus und Braus! Dir liegen Milliarden von naiven Mädchenherzen zu Füssen, auf denen du jedoch nur herumtrampelst. Ausserdem hast du einfach alles, was du dir wünschen kannst. Du lebst in den feinsten Hotels und hast bestimmt unzählige Ferienhäuser. Und vor allem anderen bist du frei. Frei, Theodor!«
Theodor verstand nicht. Ja, er hatte alles, was man besitzen konnte und die Mädchen flogen auf ihn, ja, das hatte er nicht bedacht, aber... was meinte sie mit frei?
»Du verstehst es nicht, oder? Theodor, was glaubst du, wieso ich so ausgerastet bin, weil du den Bullen meinen Namen verraten hast?«, zischte sie, nun wieder auf hundertachtzig.
»Na, weil die dich für eine Entführerin hielten und du eine Knarre dabei hattest?«, schlug er verwirrt vor.
»Nein, schön wär's. Ich habe dir doch erzählt, dass ich eine Waise bin, oder?«
»Ja, du lebst bei deinem Onkel, der der Direktor dieses Zirkus' ist.«
»Genau. In jener Nacht, als wir uns das erste Mal begegnet waren, der Tag, an dem die Zeit stillstand, da wollte ich abhauen. Weg von dem Zirkus. Weit, weit weg.«
»Auch das hast du mir erzählt. Er hat dich immer irgendwo eingesperrt, nicht wahr?«
»Eingesperrt ist eigentlich noch viel zu harmlos ausgedrückt. Theodor, ich war eine Sklavin! Mein Onkel hat sich kein Stück für mich interessiert. Er wollte nur das Geld, das er mit mir verdienen konnte. Nachdem meine Eltern gestorben waren, wurde Gantrovo mein Vormund. Er liess mich die Schule abbrechen und nahm mich fortan mit auf Tournee. Wir reisten durch Europa, Amerika, ja sogar in China waren wir einmal! Und doch habe ich nie mehr von der Welt gesehen, als ich auf dem Weg vom Zirkuszelt zu meinem Wagon erkennen konnte.«
Theodor hustete und fragte: »Aber das kann doch nicht sein. Gibt es da kein Jugendamt oder so was?«
Bonnie lachte freudlos auf und knurrte: »Ich habe noch nie irgendwas von denen gehört. Nachdem mein Vater gestorben war, bin ich eine Weile vom Jugendamt versorgt worden, bis man Gantrovo ausfindig gemacht hatte. Und dann... Ich kann mich nicht mehr richtig daran erinnern, aber ich glaube, ein Taxi hat mich zu dem Winterquartier des Zirkus' gefahren.«
»Aber da muss doch ein Sozialarbeiter dabei gewesen sein. Die haben dich doch bestimmt nicht einfach alleine gelassen.«
»Das ist es ja! Ich war alleine! Gantrovo hatte am Eingang des Quartiers auf mich gewartet. Niemand war dabei, als er mich der Zirkusmannschaft vorgestellt hatte. Niemand hatte mir geholfen, nachdem ich dem Dreckskerl meine Gabe offenbart hatte und dieser mich in den Wohnwagen sperrte. Ich hatte keine Chance!«
Theodor schluckte. Das war alles wirklich äusserst eigenartig. Er dachte an seine eigene Adoption zurück. Nachdem Jared ihn entdeckt hatte, war nicht viel Zeit vergangen und er hatte in Luxussuiten gewohnt, in Seidenbettwäsche geschlafen und Privatunterricht bekommen. Sozialarbeiter hatten oft nach ihm gesehen, doch nach einigen Monaten hatte auch dies nachgelassen. Aber diese Sache mit Bonnies Adoption... Entweder band die Kleine ihm einen Bären auf, oder hier ging tatsächlich irgendetwas absolut nicht mit rechten Dingen zu...
»Ich kann nichts tun, als mich noch einmal zu entschuldigen, Bonnie«, brummte er leise.
Sie seufzte und meinte: »Ja, schon gut. Ich habe wohl wieder einmal etwas überreagiert.«
Erneut schwiegen sie sich eine Weile an. Nur der Kies knirschte unter ihren Füssen und irgendwo im tiefen Nebel schrie ein Käuzchen. Um seine Nervosität abzubauen, liess er den Blick über ihre Umgebung schweifen. Viel konnte er in dem Nebel nicht erkennen. Links von ihnen wogte die Gerste und rechts tat sich eine Wiese auf, deren wilde Blumen und Gräser so hoch waren, dass sie Bonnie bis zur Brust und ihm bis zum Bauch reichten. Die meisten Blumen hatten ihre Blüten bereits geöffnet, nur wenige hatten die Köpfe noch geschlossen.
Plötzlich spürte er Bonnies Blick auf in seinem Nacken brennen. Sie ging gar nicht mehr neben ihm her, war einfach stehen geblieben. Er drehte sich um und bekam augenblicklich ein mulmiges Gefühl. Sie schien ihn beinahe schon anzustarren. Den Kopf hatte sie zur Seite geneigt, die Lippen gespitzt, ihre Augen waren misstrauisch zusammengekniffen.
»Ist was?«, fragte Theodor vorsichtig.
»Hier stimmt doch etwas nicht«, murmelte Bonnie und durchbohrte ihn weiter mit ihrem Blick.
»W... was stimmt nicht?«, stammelte er.
Bonnie ging auf ihn zu und stellte sich vor ihn. Die Arme hatte sie vorwurfsvoll in die Seiten gestemmt, den Kopf stolz gehoben. Obwohl sie kleiner war als er, fühlte er sich unterlegen.
»Theodor Stark, was ist hier los. Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, hast du mir nicht glauben wollen. Du hast mich als Lügnerin bezeichnet, weil ich schlecht über deinen Vater geredet habe. Du wolltest mich nie wieder sehen und dann bist du auf mich losgegangen! Svarga! Schlimm genug, dass du dabei selbst beinahe umgekommen bist, du hast mich auch fast getötet.«
Theodor dachte fieberhaft nach. Was sollte er Bonnie erzählen? Er war aus dem Krankenhaus abgehauen, weil ihm einfach alles zu viel geworden war. Die Tatsache, dass er sterben würde und dass »Es ist etwas kompliziert und... und was bedeutet bitte Svarga
»Das ist Hindi und... egal! Theodor, du wirst dich da jetzt nicht rausreden! Ich merke doch, dass da was im Busch ist! Wenn du willst, dass wir Freunde sind, dann sag mir gefälligst die Wahrheit. Wieso bist du hier? Und komm mir jetzt nicht wieder mit der Freundschaftsmasche. Du hast damals in der Manege gesagt, du würdest meine Hilfe brauchen. Wieso, verdammt?«
Er schluckte und versuchte, zu erklären: »Ganz ehrlich Bonnie, ich habe selber keine Ahnung. Mein ganzes Leben ist vollkommen zerstört. Der Boden bricht unter mir weg und alles, an das ich geglaubt habe, wendet sich gegen mich. Es ist, als würde ich immer tiefer fallen und hätte nichts, an dem ich mich festhalten kann. Und dann bist da du. Du bist die Einzige, die mir irgendeine Erklärung geben konnte. Die Ärzte sind ratlos, niemand kann mir helfen. Der Mann, der für mich eigentlich ein Vater sein sollte ist nur noch daran interessiert, wie er aus meinem Tod den grössten Profit ziehen kann.«
»Vergiss es, Theodor! Es tut mir ja leid, dass du stirbst, aber trotzdem werde ich nicht weiter gehen, bis du mir erzählt hast, wieso du hier bist!«, zischte sie.
»Ich bin abgehauen, Bonnie. Es war zu viel. Ich bin aus dem Krankenhaus abgehauen. Ich habe mir den Lamborghini meines Managers gekrallt und bin losgerast. Einfach so. Ohne Ziel. Ich habe dann in einem Motel übernachtet. Heute Morgen bin ich wieder weitergefahren und hatte einen Unfall. Ich habe irgendwie die Kontrolle über den Wagen verloren und bin von der Fahrspur runter und gegen einen Baum gekracht...«
»Du hast 'nen Lamborghini zu Schrott gefahren?!«, kreischte Bonnie dazwischen.
»Ja, habe ich. Ich bin dann einfach 'ne Weile durch den Wald geirrt und plötzlich war da dieser Zirkus. Ich weiss, es klingt absolut verrückt, aber das war dein Zirkus, Bonnie. Ich weiss nicht, wieso unsere Wege sich immer wieder kreuzen, aber sie tun es. Ich schätze, es ist nur ein komischer Zufall, aber ich musste dich dann einfach sehen. Auch wenn das was du mir erzählt hast, von meinem Vater, der ein Serienkiller sein soll und all das, eigentlich nur ein riesen Haufen Unsinn ist, so bist du trotzdem die Einzige, die mir überhaupt eine Antwort geben kann. Bonnie, ich sterbe und ich habe keine Ahnung, wieso. Ich muss das wissen und selbst wenn ich dafür mit einer Verrückten wie dir durch halb Grossbritannien flüchten muss!«, rief Theodor und ballte die Hände zu Fäusten. Er war so ein widerlicher Lügner! Ein Mörder, Dieb, Verräter, Arschloch, Feigling und nun auch noch ein Lügner. Aber was sollte er machen? Er konnte Bonnie nicht von Abby erzählen. Wie auch? Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie dann noch helfen würde.
Bonnie runzelte die Stirn und murmelte: »Du... du willst Antworten? Gut, ja, das kann ich irgendwie verstehen. Du willst wissen, an was oder wieso du stirbst. Aber... du... du hast nicht nach mir gesucht?«
»Es tut mir leid, dass ich nicht nach dir...«
»Nein, so meine ich das nicht«, unterbrach sie ihn. »Ich meine, dass wenn du nicht nach mir gesucht hast... Du denkst es war ein Zufall, dass wir uns wieder getroffen haben?«
Er nickte zögerlich und brummte: »Was denn sonst?«
»Ich glaube nicht an Zufälle, Theodor Stark. Aus irgendeinem Grund treffen wir uns immer wieder, nur wieso? Vielleicht... vielleicht ist das unser Schicksal. Vielleicht ist es unsere Bestimmung, herauszufinden, was uns verbindet und wer wir sind.«
Theodor lachte los und prustete: »Schicksal? Unsinn! So was gibt es nur in Märchen!«
Ein wenig beleidigt musterte sie ihn und antwortete: »Wie willst du dir das alles sonst erklären? Ausserdem ist das alles ja tatsächlich irgendwie übernatürlich. Mein bester Freund ist ein sprechender Kolibri, ich kann Dinge zum Leben erwecken, Sterbende zurückholen und du, Theodor, scheinst an irgendeiner Herzkrankheit zu sterben, die es zuvor noch nie gegeben hat! Das... das klingt doch absolut nicht normal!«
Bonnie klang vollkommen überzeugt, doch er schwankte noch.
Schicksal.
Ein Wort, das er noch nie wirklich ernst genommen hatte. Es war so ein grosses Wort, ein schweres Wort, ein Wort, das er aus Büchern und Filmen kannte. Ob es so etwas wirklich geben konnte? Das war doch Unsinn! Aber was, wenn Bonnie recht hatte? Wenn es das Schicksal gab... vielleicht... ja, vielleicht gab es dann auch noch Hoffnung für ihn. Wenn das Schicksal es so wollte, würde er vielleicht nicht sterben. Vielleicht, vielleicht würde er leben! Vielleicht!
Entschlossen hob er den Kopf und wollte Bonnie von seiner Hoffnung erzählen, da entdeckte er etwas - oder besser gesagt - jemanden.
Die goldene Gerste wogte sachte auf und ab wie goldene Wellen aus Korn. Hörte man genau hin, konnte man ihn leise rauschen hören. Inmitten dieses goldenen Meers stand ein Mädchen. Ihre Haare waren lang, schwarz und gelockt. Ihre Haut war so blass wie der Nebel, der um sie herumschwaderte. Das weisse, lange Kleid umhüllte ihren zarten Körper wie ein Leichentuch.
Es war Abby, das Geistermädchen.
Theodor starrte sie an. Seit er und Bonnie aus dem Zirkus geflohen waren, hatte er sie nicht mehr gesehen. Er hatte gedacht, sie wäre ihren eigenen Weg gegangen, hätte sich vielleicht sogar in Luft aufgelöst oder was Geiser sonst so tun. Aber nein, da stand Abby und starrte ihn an.
Theodor wusste nicht, ob er sich freuen sollte oder nicht. Er entschied sich, einfach einmal zurück zu starren und da fiel ihm auch auf, dass mit Abby etwas nicht stimmte.
Sie war völlig reglos, fixierte ihn nur mit ihrem Blick.
»Ist was?«, fragte Bonnie verwirrt, doch Theodor antwortete nicht, denn nun kam auf einmal doch noch Bewegung in das Geistermädchen.
Als würde ein Ruck durch Abby fahren, riss sie den Mund auf und schrie. Ein langer, lauter, greller, schrecklicher Klagelaut. Dann traf Theodor der Schmerz mit voller Wucht. Als würde ihm jemand mit brennenden Händen auf seine Brust einschlagen, sein Herz packen und zerquetschen. Für einen Moment war er wie gelähmt. Nur ein leises Keuchen entfuhr ihm.
»Theodor?«, fragte Bonnie wie aus weiter Ferne. Theodor verstand nicht. Konnte sie Abby etwa nicht hören? Wie sollte jemand diesen Schrei überhören können?
Dann schrie auch er auf.
Seine Beine gaben nach und er landete auf Knien und Händen auf dem Kies. Der Husten schüttelte ihn und nahm ihm den Atem. Abby schrie noch immer.
»Hier! Trink das!«
Bonnie streckte ihm eine Wasserflasche entgegen. Er glaubte jedenfalls, dass es eine Wasserflasche war, denn der Schmerz und der Husten hatten ihm die Tränen in die Augen gejagt und nun sah er nur noch alles verschwommen. Er griff nach dem flüssigen, klaren Leben und schluckte gierig. Das kühle Nass rann seine Kehle hinab, doch der Schmerz, der ihn um den Verstand zu bringen schien, konnte es nicht lindern.
Und er schrie weiter, konnte nicht aufhören. All seine Sinne wurden von diesem höllischen Schmerz überlagert. Er konnte nicht sehen, nicht riechen, nicht hören oder schmecken. Ihm war weder heiss noch kalt. Oben und unten gab es nicht mehr. Recht und links waren nichts als Wörter, die lose im Raum standen, genau wie er es tat. Er hatte jegliche Wahrnehmung verloren, war nur noch ein Wesen aus Schreien und Schmerzen, das nicht in einer realen Welt existierte, sondern im Nichts flog, fiel und rotierte. Er vergass, wo er war, wer er war, warum er war, wie er war, was er war. Er verlernte das Denken, verlor jeglichen Halt.
Übrig blieb der Schmerz.

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt